Gitarre und Musiklehre, U. Meyer

Frühförderung

Dieses Kapitelchen ist an werdende oder ganz junge Eltern gerichtet, oder auch werdende Großeltern. "Frühförderung" heißt: es geht um den Start.

Bring dem Kind was bei, solange es noch auf der Ofenbank liegt. sagt eine alte russische Volksweisheit. Um musikalische Früherziehung, Grundkurse, Musikgarten und ähnliche Angebote soll es hier aber nicht gehen, nicht einmal um Musik. Eher um die Grundfähigkeiten, die ein Mensch braucht, auch zum Musizieren.

Wir alle haben schon davon gehört, dass die frühkindliche Entwicklung irgendwie besonders wichtig ist und hier Grundlagen für alles spätere gelegt werden, oder eben nicht. In einer Fortbildung durch einen PäPKI® - Therapeuten wurde dieses "irgendwie" für Mitarbeiter unserer Musikschule konkretisiert. Ich kann hier natürlich nicht alle vorgestellten Beobachtungen und Therapiekonzepte darstellen, aber vielleicht doch auf Grundsätzliches aufmerksam machen.
Ich weiß keineswegs "richtige Antworten", vielmehr möchte ich nur ein paar Gedanken im Sinne des einleitenden Zitates äußern.

Motorische Probleme

Warum "vergraben" so viele anfangende Gitarrenspieler den Fuß, der nicht auf der Fußbank steht, weit hinten unter dem Stuhl? Warum sitzen sie halb angelehnt mit rundem Rücken? Warum liegt der Daumen der Greifhand nicht locker auf der Rückseite des Halses, warum wird der Hals wie ein Hockeyschläger gegriffen, die Finger kleben an der Halskante und greifen flach statt von oben, warum wird statt im Wechselschlag im Ein-Finger-Suchsystem gezupft, und eigentlich eher von der Decke weggerupft?

Ist der Grund für diese Haltungsfehler nur Faulheit, pubertärer Widerstand, oder stimmt das "Ich kann das so aber besser!" wirklich?

Probleme mit der Motorik fallen nicht nur im Gitarrenunterricht auf - wie ABC-Schützen ihren Stift anfassen und beim Schreiben halb auf der Schulbank liegen spricht auch Bände. Die Kehrseite solcher Beobachtungen ist die hohe Anzahl von Kindern, die beim Ergotherapeuten angemeldet sind.

Können Eltern oder allgemein betreuende Personen etwas für bessere Feinmotorik tun, Weichen anders stellen, oder ist alles angeboren?

Automatisches Lernprogramm

Wenn ein Menschlein geboren wird, und schon davor, beginnt ein quasi vollautomatisches Lernprogramm "Ich entwickele mich zu einem Exemplar der Gattung Mensch". Das Baby quäkt anfangs ein bisschen herum, und man weiß als junge Eltern nicht so richtig, was man damit machen soll, aber wenn alles gut geht, kann die neue Person nach einem guten Jahr auf zwei Beinen herumwatscheln und ein bisschen sprechen, sodass Kommunikation, vor allem Antworten auf Fragen wie "Wie geht es dir, brauchst du etwas, kann ich dir helfen?" möglich wird.

Im Laufe der ersten 12 - 18 Monate eines Kindes passiert aber eine Menge mehr, und Wissenschaftler haben konkrete Begriffe für Verhaltensmuster, die entweder gelernt werden oder nicht. Da gibt es den "Ellenbogen-Becken-Stütz" und "Hand-Becken-Stütz", "Palmar-Reaktion" und "Saug-Reaktion", die eine Zeit lang auftreten und dann von neu erworbenem Verhalten abgelöst werden.
Diese Verhaltensmuster sind notwendig und müssen erlernt und dann durch andere ersetzt werden, sonst werden ganze Bereiche des Lernprogramms nicht ordentlich verwirklicht.
Relativ bekannt ist zum Beispiel, dass richtiges Krabbeln über ausreichende Zeit und mit Hingabe die Sprachstörung "Stottern" unwahrscheinlicher macht. Das Überspringen dieses Entwicklungsschrittes in der Fortbewegung beeinflusst offenbar den Spracherwerb.

Müssen Eltern alle diese Begriffe kennen und die Entwicklung ihres Kindes daran messen? Natürlich nicht, wobei wir das aber alle doch tun, denn wenn wirklich auffällige Defizite sichtbar werden, fragt man um Rat, und die Untersuchungen beim Kinderarzt stellen ja auch eine gewisse "Grundüberwachung" dar. Viele junge Eltern besuchen Krabbelgruppen mit ihrem Baby, und auch dort vergleicht man natürlich "Was kann mein Kind, was können die anderen?", wobei den meisten die Feinheiten schlicht entgehen dürften.

Bei vielen Dingen sagt man halt "Das wächst sich aus!", und wenn sich ein Kind in normalem Umfeld normal entwickeln kann, tut es das ja auch, schließlich verfügt auch die Gattung Mensch über Instinkte und Lernprogramme wie kleine Tigerbabys.

Trotzdem glaube ich, dass Eltern viel tun können in der äußerst schwierigen Zeit, in der so gut wie alle Bemühungen um das Kleinkind mit gar nichts quittiert werden, bestenfalls mit einem ruhigen, zufrieden schlafenden Kind, und auch das ist nicht gewiss, denn wenn ein Baby schreit, muss das nichts damit zu tun haben, dass man sich gerade mit ihm beschäftigt hat. Babys geben noch keine Rückmeldungen, weil sie es schlicht nicht können, und auch wenn sie lächeln und dann laut lachen gelernt haben, kann dies schnell umschlagen, ohne dass eine Erklärung dazu abgegeben wird.

Einseitige Kommunikation

Zunächst liegt also der Zwerg auf dem Rücken oder dem Bauch und tut aktiv nicht viel außer saugen und - immerhin! - greifen. Greifen tut man mit den Händen, und jeglicher Reiz in dieser Richtung, jedes Geben und Nehmen einer Rassel oder eines Holztieres ist eine Form von Interaktion, die Spuren im Gehirn hinterlässt.

Große Bewunderung seitens der jungen Eltern: Baby kann sich aus der Rückenlage auf die (meist erst mal eine) Seite drehen, und dann mit der Hand dieser Seite einen Gegenstand greifen. Als nächstes wird der Gegenstand dann in die andere Hand übergeben, und dann sogar "übergegriffen": das Kind dreht sich auf die linke Seite und greift mit der rechten Hand nach der Rassel. Juchhu!
Hier wird die Zusammenarbeit der beiden Hälften des Gehirns initiiert! Diese Lernschritte, greifen, über-greifen, von einer Hand in die andere übergeben, die eigenen Füße anfassen oder in den Mund stecken haben komischerweise mit den eingangs beschriebenen Haltungsproblemen bei der Gitarre zu tun.

Kann man, muss man jetzt etwas tun? Muss man hier ein "Bonus-Trainingsprogramm" starten?
Natürlich nicht, aber die "Spiegelung" durch die Eltern (oder andere) ist wahrscheinlich schon etwas, was "zusätzliche Tiefe" bei der Verankerung im Gehirn hinterlässt: Vielleicht kommt man sich blöd vor (das Eiteitei-Babysprachen-Syndrom), mit jemandem über das gerade Geschehene zu sprechen, der noch nicht mal "ma", geschweige denn "Mama" oder "Maschinenbauingenieur" sagen kann, aber das Bewusstsein des Kindes ist doch da und registriert etwas im Sinne von "Ich (?) grabsche die Rassel und stecke sie in den Mund, und die komischen Großen, die meistens da sind und sich um mich kümmern brabbeln dazu merkwürdige Laute, die erstaunt, zufrieden und irgendwie positiv klingen und streicheln mich dazu..."

Dieser völlig nonverbale Austausch dauert ja nicht ewig an, obwohl diese Zeit "Erst-Eltern" sehr lang vorkommen kann, und man sich beständig fragt, wie man denn nun wissen soll, ob alles in Ordnung ist. Wie begeistert waren wir, als unsere Tochter, wenn man mit dem Holzhäschen auf dem Teppich herumhüpfte und dabei "Muck muck muck!" sagte, in wahre Lachsalven ausbrach - das war doch eindeutig erfolgreiche Kommunikation: wir lachen uns gemeinsam scheckig, also gehören wir zu einer Sorte Wesen!

Spielen und Spiegeln

Was man also tun kann: mit dem Kind "spielen", wobei dieser Begriff am Anfang eher eine normal ernste Angelegenheit zu sein scheint.
Ein Baby liegt auf dem Rücken und kann einen Ball gerade mal so eben zwischen den Händen halten. Man nimmt den Ball aus den Händen, gibt ihn zurück, hält ihn irgendwo hin, kommentiert "Guck mal, der große blaue Ball!", gibt ihn wieder zurück - das Baby macht mit, aber es antwortet natürlich nicht, und es ist kaum zu beobachten, ob die Sache ihm "Spaß" macht, überhaupt sein Interesse findet, und wann der Zeitpunkt kommt, wo es müde wird und eigentlich die Nase voll hat.
Etwas später kann man dann den Ball auf das auf der Seite liegende Kind zurollen, und er wird entweder gegriffen, oder mit einer unkoordinierten Fuchtelbewegung wieder weg geboxt.

Solche Beschäftigung mit dem Kind ist komisch, weil keine eindeutigen Signale zurück kommen, und wenn dies beginnt, muss man sie erst deuten lernen. Es macht dem Erwachsenen auch nicht unbedingt Spaß - die Bedingung dafür wäre, dass er sich für die Entwicklung seines Kindes interessiert.
So "spielt" man Tag um Tag mit dem Baby, und ganz allmählich ändert sich etwas, wenn auch nur minimal, und hoffentlich wächst dabei die Begeisterungsfähigkeit der Bezugspersonen.

Wenn das Kind gut drei Jahre alt ist, lernt es vielleicht gerade einen Ball fangen, der ihm aus etwa zwei Metern zugeworfen wird. Auch in diesem Alter ist das "Spielen" für den erwachsenen Partner eher noch "langweilig", weil das Kind noch ungeschickt ist, viele Versuche misslingen, Frustration entsteht, aber dennoch: das ist es, was wir tun können: da sein, mitmachen, das Kind spiegeln.
Das Kind fühlt sich in solchen Momenten, auch wenn es gerade mißmutig ist und nur "Zeit toschlägt", eventuell sogar schlechte Laune wegen der nicht gefangenen Bälle herauslässt, trotzdem geborgen.

Suche: motorische Entwicklung

Man braucht in die Suche nur "motorische ent" zu schreiben, schon türmen sich die Angebote...

Ob man nun ungefähr weiß, was in der Entwicklung des Kindes gerade "dran" ist oder nicht - man kann sich eigentlich immer sinnvoll mit dem Kind beschäftigen. Auch wenn es gerade erst dabei ist, krabbeln zu lernen kann man mehr tun, als das Kind ausschließlich alleine "machen zu lassen" (natürlich sollte das Kind immer auch dafür Freiraum haben!), sodass Kommunikation stattfindet, auch ohne Sprache.

Zugang zu Informationen

Im Internet ist es ja leicht, Informationen zu finden: man gibt "Moro-Reflex" in die Suche ein, und kann auf youtube Filmchen anschauen, die zeigen, was es ist, und in Foren und auf diversen Seiten lesen, wozu es gut ist, wie lange es funktionieren sollte, und welchen Sinn für die Entwicklung es hat.
Das war vor wenigen Jahren noch sehr viel schwieriger: man musste die richtigen Leute fragen, das richtige Buch finden, richtig suchend lesen, während man heute eine Seite öffnet und dann "strg+f" drückt, um direkt zur interessanten Stelle zu kommen. Und natürlich ist die erste Informationsquelle der Kinderarzt, der nicht nur bei der Einschulungsuntersuchung auf Dinge hinweisen kann.

Trotzdem sind viele Kinder motorisch nicht gut drauf und bei irgendeinem Therapeuten, Leute schieben mit dem Kinderwagen durch die Gegend und tippen dabei SMS auf dem Smartphone (vielleicht forschen sie gerade im Internet nach Informationen über motorische Entwicklung...), statt ihr Kind im Tragetuch mit Kommentaren zur gemeinsam beobachteten Welt ("Guck mal, ein rotes Auto...") zu bedenken.
Man kommt sich möglicherweise komisch vor, einem Kind, das gerade sitzen kann, das textlose Aufstell-Buch aus abwaschbarem Plastik "vorzulesen", oder einem Tragebaby Kinderlieder mit allen Strophen vorzusingen, aber vielleicht macht das den Unterschied? Vielleicht wird dadurch das Interesse für Bücher und rhythmisches Gefühl angelegt? Wenn endloses Fußball hin-und-her-bolzen etwas an den "Stellschrauben für die Auge-Bewegungskoordination" verändert, ist das vielleicht der Grund, warum ein Kind den Geigenbogen gerade führt, während ein anderes "säbelt"?
Selbstwahrnehmung und eigenes Körpergefühl entstehen durch Bewegung und deren Spiegelung durch andere, besonders in der frühkindlichen Phase. Bauklötze, Bälle, Ringkämpfe und Puzzles sind sicher bessere Anregungen als Spielkonsolen oder nichts.

Was sicher nicht geht: durch Gitarrenunterricht Koordinationsschwierigkeiten, die ihre Wurzeln in der frühen Kindheit haben, bessern oder gar beheben. Die komplexen Bewegungs- und Steuerungsabläufe durch das Gehirn, wie sie an fast allen Musikinstrumenten gebraucht werden, setzen bestimmte Grundlagen voraus, können diese aber nicht nachträglich beeinflussen.

Man kann natürlich mit entsprechendem Fleiß und Einsatz immer besser Gitarre spielen lernen - aber die Lernschritte eines Kleinkindes finden in einem anderen Alter statt beziehungsweise müssen mit anderen Therapieansätzen wie z.B. der PäPKI® - Therapie aufgearbeitet werden.

Musikalische Begabung und Förderung

Lernerfolg in Sachen Musik hängt nicht nur von Fleiß und guten Unterrichtsbedingungen, sondern stark von Begabung ab. Hier ähnelt die Musik Sprachen oder Mathematik. In Fächern wie Geschichte, Erdkunde, Politik und Religion kann jeder erfolgreich sein, der sich einarbeitet, liest, und leicht auswendig lernt.

Wer aber mit Musik an sich wenig anfangen kann, für den ist das Lernen nicht so einfach, auch wenn die Notenschrift eigentlich sehr logisch ist, und man mit ihr vielen Menschen die Bedienung eines Musikinstrumentes beibringen kann.
Ebenso lässt sich vielen Menschen erklären, wie das mit der Perspektive in Bildern funktioniert - gut zeichnen können am Ende doch nur die mit künstlerischem Talent.

Sollte man also musikalische Begabung als Kriterium bei der Einteilung von Unterrichtsgruppen nutzen?

Wie schnell sieht man sich, wenn man über solche Dinge nachdenkt, dem Vorwurf der Bevorzugung begabter Schüler oder Elitenbildung ausgesetzt. Genau darum soll es in dieser Glosse gehen: um die Angst vor Eliten.

Als kleiner Gitarrenlehrer arbeite ich nicht in einem "Leistungszentrum" und habe auch selten mit künftigen "Superstars" zu tun, aber auch in der Basisarbeit fragt man sich, ob Dinge manchmal nicht manchmal anders laufen könnten, und dann vielleicht bessere Ergebnisse brächten. Um Ergebnisse aber muss es doch jedem gehen, der in irgendeiner Form pädagogisch tätig ist, nicht nur um die Verwaltung von "Lernzeit".

Einteilung in der Musikschule

Kinder, die an der Musikschule angemeldet werden, kommen meist aus bildungsnahen Familien. Wo dies nicht zutrifft, ist es um so besser, denn jeder sollte wirklich eine Chance haben, verschiedene Hobbys auszuprobieren.

Die Bereitschaft zur musikalischen Förderung ist bei verschiedenen Instrumenten unterschiedlich ausgeprägt: tendenziell heißt Unterricht in Fächern wie Klavier, Streichinstrument, Holzblasinstrument oder Schlagzeug eher Einzelunterricht, während zum Beispiel bei Gitarre, Blockflöte, Keyboard oder Akkordeon gerne in Gruppen eingeteilt wird.
Eltern, deren Kinder typische "Einzelunterrichtsinstrumente" erlernen, sind eher bereit, mehr Geld für den Musikunterricht zu zahlen.

Wenn Kinder für Gruppenunterricht angemeldet werden, gibt es eine "Warteliste", die eigentlich immer nach dem Motto "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" abgearbeitet wird. Was aber wäre, wenn man schauen würde, wer in welchem Maße musikalisch ist und zusammen passt?

Aufnahmeprüfung und Castingshow

So etwas findet nicht statt - man müsste ja eine Art "Casting" veranstalten, die Lehrkraft müsste irgendwie versuchen herauszufinden, wer sich besonders zur Musik, zu diesem Instrument, und eventuell zu der geplanten Gruppensituation eignet. Ungerechtigkeit, Irrtum und Nicht-Neutralität wären Tür und Tor geöffnet!

Richtig: man kann falsche Entscheidungen treffen! (Ohne falsche Bescheidenheit: Lehrkräfte mit viel Erfahrung machen da nicht so viele Fehler.) Ich habe in mehreren Gruppen Kinder, die ich spontan als die besten Spieler, aber gleichzeitig als die Kinder mit dem problematischsten Sozialverhalten bezeichnen würde. Wer weiß, ob ich diese nach einer kurzen Testphase nicht aus der Gruppe komplimentiert hätte, schließlich braucht man durchaus Nerven für manche Konstellationen.
Außerdem - das wäre doch ungerecht, man kann doch nicht jemanden vorziehen, der sich zuletzt angemeldet hat! Wir sind zwar nicht in England, dem Land der geordneten Warteschlange, aber immerhin!

Ja, aber so entstünden eventuell Gruppen, die besser zusammen passen, auf einem Niveau arbeiten, geschlossener und wahrscheinlich schneller vorankämen und länger zusammenhalten würden, und man hätte womöglich mehr Erfolg als mit der reinen Verwaltungstaktik.

Die Gerechtigkeit der Meinungslosen

Aber man müsste sich zu einer Meinung durchringen, begründen, rückwirkend rechtfertigen, Kinder und Eltern müssten Entscheidungen akzeptieren. Kann man den Kunden - als solche nehmen wir Musikschullehrer unsere Schüler und deren Eltern zunehmend wahr - noch zumuten, Kompetenz und guten Willen auf unserer Seite voraus zu setzen? Da wird das kompliziertere Konzept lieber verworfen: wer die Eingangsreihenfolge abarbeitet, sündigt nicht!

Überall gibt es neuerdings Musikklassen, Bläserklassen und Streicherklassen an Gymnasien. Werden dort musikalisch stark Interessierte besonders gefördert? Wäre dafür nicht auch ein Auswahlverfahren nötig? Meine Schüler, die sich für solche Angebote interessieren, berichten, dass im Fall zu vieler Anmeldungen das Losverfahren entscheidet. Auf Homepages von Gymnasien steht zum Beispiel "Eine Aufnahmeprüfung gibt es nicht. Von den Schülerinnen und Schülern des Musikzweigs wird aber erwartet, dass sie Instrumentalunterricht bereits erhalten oder nehmen."
Dabei gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Instrumentalunterricht erteilen kann, wer will; eine Qualifikation muss man dafür nicht nachweisen. So kommen hoffnungsvolle Fünftklässler, die vor zwei Jahren mal ein halbes Jahr lang Akkorde auf einer viel zu großen Gitarre probiert haben mit Kindern zusammen, die seit fünf Jahren intensiv Violoncello spielen.

Dieses Vermeiden von Aufnahmeprüfungen welcher Art auch immer klingt nach gleichen Bildungschancen und Gerechtigkeit, aber definitiv nicht danach, dass hier besondere Kinder besonders gefördert werden. Vielleicht wäre das auch falsch.

Die Langeweile der Verwalteten

Vielleicht aber auch nicht. Menschen, die sich durch besondere Begabung in einem Teilbereich auszeichnen, sind tendenziell gelangweilt, wenn sie über Jahre gezwungen werden, unter ihren Möglichkeiten zu bleiben.

Im Sport läuft das selbstverständlich anders, ein begabter Fußballer wie Özil muss nicht lange auf dem Niveau der Mannschaftskollegen kicken - er schießt eben die besten Pässe und Tore, es gibt ja kein Lehrbuch, an das sich das Team halten muss. Aber in der Musikerziehung steht häufig die Anpassung an das Gruppentempo vor individueller Leistungsfähigkeit. Erst wenn man selber Musik studieren möchte, steht man plötzlich vor dem Schreckgespenst "Aufnahmeprüfung": einfach so an einer Musikhochschule oder Universität Musik studieren geht nicht. Wenn dort gerade nur 20 Erstsemester aufgenommen werden, und man war bei der Aufnahmeprüfung nicht so gut wie 20 andere, dann war's das.
Aber man kann ja noch schnell an einem Vorbereitungskurs zur Aufnahmeprüfung teilnehmen, und sich für die Prüfungen in Musiktheorie, Gehörbildung, Rhythmusdiktat und dergleichen mehr fit machen. Geübt haben und mit Aufregung zurecht kommen sollte man sowieso, und im Zweifelsfall probiert man es ein Jahr später noch einmal...

Woher soll die Leistung kommen?

Nun kommen Bewerber um Studienplätze nicht nur aus Deutschland, sondern von überall her, und es scheint sehr viele Länder auf diesem Planeten zu geben, in denen man vor der Einteilung von unterschiedlichen Leistungsgruppen und der Förderung von Eliten unterhalb der Volljährigkeit keine Angst hat. Das führt vor allem in der Weiterqualifikation dazu, dass sich das Kind aus (Nord-) Deutschland, Gruppenunterrichtsschüler, Musikklassenmitglied, als junger Erwachsener den Mitbewerbern zum Beispiel aus Fernost oder Osteuropa gegenüber hoffnungslos im Rückstand sieht.

Beim Internationalen Joseph Joachim Violinwettbewerb Hannover 2012 gab es 36 Teilnehmer, davon einen aus Deutschland. Im Zeitungsinterview war zu lesen: Es kann sein, dass vor allem im asiatischen Raum die Kinder früher intensiver gefördert werden, sagte Feldmann. In Europa sei man wegen schulischer Verpflichtungen sehr eingeschränkt, was Übungszeiten und Unterricht angeht. Dafür hat man in Deutschland unglaublich tolle Lehrer und Eindrücke, auch durch die großen Orchester, die hier spielen.

Bitte mich nicht misszuverstehen: ich polimisiere hier gegen die bunderepublikanische Eliten-Angst und die Kurzsichtigkeit beim Geldausgeben. Die freundlichen Studenten aus Korea oder Polen sind durch ihr Können und ihren kulturellen Hintergrund eher Inspiration oder gar Vorbild. Und es kommt nicht darauf an, aus welchem Land künftige Virtuosen kommen.

Auswahlverfahren brauchen Konzepte, Leute, die sie durchführen, und - wie immer - Geld für etwas, das so im Schulalltag oder Musikschulbetrieb nicht vorgesehen ist. Die Konsequenz aus solchen Prüfungen, intensivere Förderung, braucht erst Recht finanzielle Unterstützung. Also in erster Linie politischen Willen.

Der erschöpft sich aber immer noch in gegenteiligen Konzepten: Ideen wie das "Jedem Kind ein Instrument" - Projekt klingen nach großartiger Förderung, sehen konkret an der Basis einer Landkreis-Musikschule aber anders aus als auf der schicken Homepage und laufen eben nicht auf Elite-Förderung hinaus, sondern konsequent auf Breitensport.

Geld schießt keine Tore - kein Geld schießt Eigentore

Wo ist die politische Stelle, die laut sagt, dass ein im Gruppenunterricht positiv auffälliger Schüler eine andere Förderung bräuchte, eventuell mehrmals in der Woche Unterricht, damit er irgendwann auf einem Niveau mit entsprechend geförderten Studenten aus anderen Ländern mithalten kann, und die dafür auch konkret Geld locker macht?
Wo sind die Bildungspolitiker, die konkret formulieren, dass besondere Begabungen im Schulsystem auch Zeit-Raum brauchen, die Diversifizierung positiv sehen und nicht nur immer auf Gleichbehandlung für alle pochen und Bildung und deren Finanzierung nach dem Gieskannenprinzip fordern?

Natürlich gibt es auf jeder ordentlichen Gymnasiums-Homepage eine Stelle, unter der man etwas zum Thema "Hochbegabung" lesen kann und Ansprechpartner genannt bekommt, aber wo passiert denn tatsächlich etwas auf dem platten Land? Wenn man Statistiken zu Demographie, Berufswahl und Qualifizierung liest und zusammenbringt, muss doch klar werden: das Sparen im Bereich Eliteförderung wird uns irgendwann teuer zu stehen kommen! Der Umgang mit musikalischen Begabungen ist da nur ein Beispiel.

Politischer Wille

Was wäre, wenn im Bildungsbereich Tätige besser bezahlt würden?

Wie wäre es, wenn vor allem an der Basis arbeitende Pädagogen, also ErzieherInnen in Vorschul-Einrichtungen, besser bezahlt wären, sodass diese Berufe attraktiver würden? Wenn Lehrer, die anscheinend vor Burnout und frühem Berufsausstieg aus Krankheitsgründen nicht gefeit sind, besser entlohnt würden, also bei gleichem Lebensstandard etwas weniger Stunden zu geben hätten? (Noch besser? Ja! Sonst will irgendwann keiner mehr den Job machen!) Und wenn vor allem Schulklassen kleiner wären, was ja auf mehr Zuwendung und Förderung bei geringerem Stress hinausliefe?

(Wer die aktuelle Diskussion über das Thema "Inklusion" verfolgt, weiß: das Gegenteil passiert weiterhin. Möglichst späte Bewilligung von möglichst wenig Stunden für besondere Förderung problematischer Kinder, Pädagogen, die mit großen Klassen mit einem größer werdenden Anteil an Kindern, die eben nicht per Zaubertrick zu integrieren sind allein gelassen werden - das ganze Nicht-Programm...)

Mehr kluge Köpfe würden sich für pädagogische Berufe entscheiden. Die Ergebnisse von Pisa-Studien würden hoffentlich besser. Mehr Begabtenförderung wäre möglich.

Würde solches Umdenken das Land wirklich ärmer machen? Bildungsangebote sind ein "Standortfaktor", denn Menschen, die ihre Begabung ausleben können sind zufriedener. Auch die Leute, die sich aus finanziellen Gründen nie etwa für den Beruf des Grundschullehrers, sondern immer für besser bezahlte Jobs in der "freien Wirtschaft" entscheiden, haben Kinder und wünschen sich eine Kultur, in der Förderung, auch die von Eliten, nicht als Unding gilt.

Ende der Kindheit oder: Selbstwahrnehmung und Lernen

Kinder und Jugendliche beobachten sich selbst, und sie überprüfen ständig, ob sie dem allgemeinen Bild von Altersgenossen entsprechen, oder ob sie "daneben" sind. Das weiß mittlerweile jeder: Die "Taschengeldempfänger" sind eine der interessantesten Zielgruppen der Werbung.

Dass Kinder sich selbst beobachten und vergleichen heißt: ihre Eigenwahrnehmung wird zum großen Teil fremdgesteuert. Sie entscheiden schon selbst, wie sie sein wollen, aber sie stehen dabei massiv unter Druck, sich anzupassen. Coole kidz tragen bestimmte Klamotten, und definieren sich über Accesoires mit möglichst viel Technik: ein Smartphone, am besten mit Obst-Logo, oder ein Tablet-PC von derselben Firma muss es schon sein. "Ich besitze einen Computer" heißt normalerweise "Ich habe einen Laptop". Dass das Ding die Funktion erfüllt, reicht nicht aus: es muss schick und flach sein.

Lernziele und Lerngegenstände außerhalb der Schule unterliegen auch zunehmend diesem Gruppendruck. Außerhalb der Schule heißt zum Beispiel: beim Musikunterricht. Wie lernt man eigentlich ein Instrument wie Gitarre? Und: lernt man eigentlich überhaupt ein Instrument spielen, oder tut man etwas, was man für cool hält, und was dann auch möglichst schnell diesem Anspruch genügen muss?

Das Ende der musikalischen Kindheit

Kann das Ende wirklich kindlichen Verhaltens überhaupt "nach vorne" verschoben werden? Oberflächlich betrachtet sicherlich ja, das bemerkt man an Sprache und Medienkonsum; auf emotionaler und psychischer Ebene wohl kaum.
Man kann Kinder zwar mit vielem konfrontieren - das heißt aber noch lange nicht, dass sie es verarbeiten können.

Kinder sind schon immer relativ unbeobachtet aufgewachsen, und das hat ja auch immer irgendwie geklappt. Gegen die Gehirnwäsche der omnipräsenten Werbung wird hoffentlich etwas in der Schule getan, indem "Medienkompetenz" vermittelt wird.

Solange kleine Kinder am Küchentisch ein Bild für Oma malen, und dabei vor sich hinbrummen, oder beim Spielen Lieder, die sie aus dem Kindergarten kennen singen, denkt man kaum über "Musikerziehung" nach, dabei laufen dabei Aneignungs- und Übeprozesse ab, ohne dass es jemand bemerkt. Wissen wir wirklich, was es ausmacht, wenn ein Kind dabei Vorbilder hat, die aktiv mit ihm singen, wie lang die verschiedenen Abschnitte der "musikalischen Biographie" andauern, oder ob es nur CDs hört?

Dann gibt es Brüche in der Entwicklung: weil ALLE einen Mp3-Player haben, weil ALLE im Fernsehen bestimmte Shows gucken und auf youtube Videos anschauen, wird die Entwicklung beim Hören, Kennen lernen und Reproduzieren von Musik plötzlich kompliziert: die Sprache ist meist Englisch, wird also nicht verstanden, die Inhalte sind emotional für Kinder überfordernd, und die "Lieder" sind auch irgendwie anders. Egal: man ist ja kein Baby mehr!
Durch das "Prinzip Castingshow" wird die Distanz zu Robbie Williams oder Rihanna verringert, denn dort singen durchaus sechszehnjährige die Hits nach, und mit elf ist man doch fast schon sechzehn, oder?
Selbst Rolf Zuckowski beklagt sich im Zeitungsinterview, dass die Eltern mit viel zu jungen Kindern in seine Konzerte kommen, und die etwas älteren nicht mehr zu erreichen seien.

Lästige Durststrecken auf dem Lernweg

Die Schüler kommen als Zweit- oder Viertklässler in den Gitarrenunterricht, und anfangs kämpft man mit den Schwierigkeiten der ersten gegriffenen Töne und des Wechselschlags. Aber irgendwie kommt immer früher der Satz "Können wir nicht mal was spielen, was man kennt?!"

Dann sitze ich da.
Was sage ich nun?

Die Schülern können gerade mal genug Töne für "Kuckuck ruft's aus dem Wald", dabei noch keine Viertel punktiert zählen, aber mit neun Jahren ist das angesagte Material der aktuelle Hit von Adele, oder der Gangnam Style oder was immer.
Den "Kuckuck" kennen sie ja auch oft nicht mehr, und wenn, kann man doch mit so etwas kein Instrument lernen!

Mit Tempo und Witz versuche ich, durch das Lernbuch zu surfen, erkläre den abstrusen Titel "Kein schöner Land" mit dem ausgelassenen Auslassungszeichen als Komperativ, erörtere en passant die punktierten Viertel, erreiche die Töne auf den Basssaiten (sechs Töne auf Hilfslinien - Hilfe, die kann ich mir nicht merken!), und ernte giftige Kommentare, weil man für die Begleitung von "What shall we do" tatsächlich einen zweiten Akkord können und dann auch noch wechseln muss.
Es ist alles zu viel, aber wir wollen sofort alles können, und es müssen Stücke sein, die wir nicht verstehen, für deren sexistische Implikationen im Video wir fünf Jahre zu jung sind, und deren Inhalte nichts mit der Wirklichkeit eines Kindes zu tun haben, das gerade an der Weggabelung "Weiterführende Schule - welche denn?" steht.

Kann man das irgendwie ändern? Ich fürchte nein: die Uhr ist endgültig verstellt, die Macht der Medien ist einfach zu groß, und es gibt nicht genug "Große", die sich trauen, gemeinsam überzeugend zu sagen "Das ist deinem Alter nicht angemessen!".
Dabei wäre das eine Chance für die Kinder selbst, sich zu orientieren und zu beschließen: "Nö, das brauche ich wirklich noch nicht."

Mangel an bescheidenen Vorbildern

Kann man sich damit arrangieren? Ich denke wieder: nein, denn das gewünschte Material taugt nicht für den Weg in die Musik. Endlose Tonwiederholungen und pentatonische Sequenzen aus drei Tönen, Rhythmen, für die man nun mal Überbindungen, Off-Beats und Synkopen beherrschen muss, und überhaupt Songs, die drei Minuten dauern können keine zwölftaktigen einfachen Lieder ersetzen.
Und wenn man sich diese Welt als Ziel gesetzt hat, kann man sicher sein, dass man mit der "das ist mir zu kompliziert / das kann ich mir nicht merken - Attitüde" nicht dort hin kommen wird.

Wer unbedingt im Expresstempo, sozusagen "mehrere Klassen überspringend" die Anfangsgründe seines Instrumentes durchnehmen und dann sofort Popsongs spielen will, die in vielerlei Hinsicht sehr kompliziert sind, muss sich anstrengen und nochmals anstengen, Initiative zeigen, mitarbeiten, selbstständig denken lernen.

Vorbilder für den "konventionellen Weg" gibt es immer weniger. Die "guten" Klavierschüler spielen Filmmusik aus "Amelie", und die Piraten der Mikrobik oder Musicalsongs von Elton John; Musikschulvorspiele sind voll von diesen Stücken. Die "Drei Nüsse für Aschenbrödel" sind ja nicht einfach, und gut gespielt eine hübsche Sache, und die Musik zum Film "Jenseits der Stille" ist großartige Motivation für Klarinettisten. Trotzdem würde man sich als Vorbild doch eher die Schülerin wünschen, die sich mit Erfolg an ein Präludium mit Fuge aus Bachs wohltemperiertem Klavier wagt.

So etwas wird aber von den Kids kaum wahrgenommen, die schauen sich auf youtube an, wie man "River flows in you" auf der Gitarre spielt und lehnen Tárrega ab. Intellektuell zu anspruchsvoll und ungeeignet zur Selbstdarstellung.
Das polyphone Stück auf dem Klavier ist bei jugend musiziert selbst in den höheren Altersgruppen nicht mehr Pflicht: Ursachen für diese Änderung sind sicher der Wandel des Geschmacks, geringeres Niveau und Überlastung durch die Schule.

Als Lehrer schaut man sich das an und fragt sich, zu welchen Höhen wir uns als nächstes aufschwingen werden. Wir warten auf die Generation, deren den Kinderwagen schiebende Eltern mit dem Smartphone hantieren, statt mit den Kleinen über die Welt zu sprechen.
Wenn wir Erwachsenen nicht mehr lesen, Konzerte besuchen, Fernsehinhalte kritisch mit dem Nachwuchs besprechen und dann auch mal abschalten oder seichte Unterhaltung boykottieren, können uns die Kinder in diesen Verhaltensweisen auch nicht nachahmen. Das aber wäre die einfachste Methode, dem Niveauverfall etwas entgegen zu setzen.

Hausaufgaben sind nicht gleich Hausaufgaben

Gerade von jungen Schülern hört man häufig "Wir haben heute schon zwei Hausaufgaben!" wenn man am Ende der Unterrichtsstunde sagt, was die Woche über zu üben sei. Die Erwiderung "Ihr habt ja bis nächste Woche Zeit!" ist Standard, aber irgendwie nicht befriedigend, denn der Begriff "Hausaufgabe" bleibt undifferenziert stehen. Dabei haben Hausaufgaben in unterschiedlichen Schulfächern und im Instrumentalunterricht ganz verschiedene Zielsetzungen!

Arten von Hausaufgaben

  • Für den Kunstunterricht zu Hause ein Bild zeichnen bedeutet: mache in Ruhe, mit selbstgewählter Ablenkung etwas fertig, oder ganz, das dann hinterher diskutiert wird.
  • Für eine Fremdsprache einen Text zu lesen und einen Stapel Vokabeln zu lernen bedeutet: du hast diese Zeit jetzt nur für dich! Du brauchst nicht auf die anderen zu warten, sondern sollst diese Zeit konkret für dich nutzen. Präge dir die Vokabeln ein, schaffe dir Erinnerungshilfen zum Lektionstext, denke dir Beispielsätze aus.
  • Ein Referat für Erdkunde vorbereiten heißt: trage Informationen zusammen und entwerfe etwas Eigenes. Stelle dir vor, wie du es vorträgst. Übe das Vortragen, übe Füllwörter zu vermeiden, lerne Schüchternheit zu überwinden.
  • Hausaufgaben in Mathematik gehen meist in die Richtung "Schauen wir mal, ob du die Sache verstanden hast und ähnliche Rechnungen durchführen kannst wie in der Schule.

Den meisten schulischen Hausaufgaben ist gemeinsam: man hat sie von einem Fachunterricht zum nächsten auf. Viele Fächer hat man mehrmals die Woche, das heißt: die Rückmeldung, ob die Aufgabe gut oder weniger gut erledigt wurde, kommt relativ bald.

Hausaufgaben im Instrumentalunterricht

Im Gegensatz dazu ist der Rhythmus bei den Hausaufgaben für den Gitarrenunterricht genau anders: man hat in der Regel einmal die Woche Unterricht, sollte aber möglichst oft in der Woche zu Hause üben.
Das häusliche Üben hat viel größeres Gewicht, und ist auch strukturell etwas anderes: Die immer wiederkehrende Aufgabenstellung ist, sich bei der Durchführung einer Sache zu verbessern, die man bis zu einem gewissen Grade schon kann. Dabei liegt die Betonung auf "sich verbessern", und zwar bei einer Aktion, die in Echtzeit abläuft und sehr komplex ist. Man kann nicht nachbessern, wie beim Schreiben dieses Textes oder beim Malen eines Bildes.

Da man den "roten Faden" an jedem Tag wieder aufnehmen sollte, lernt man bei dieser Arbeit noch mehr: man lernt genau zu beobachten, langen Atem und Geduld zu haben, immer neu an die Sache heran zu gehen, kreativ zu denken, Rückschläge zu ertragen und Erfolge zu speichern. Lauter sehr wertvolle Dinge, die sonst in unserem Alltag selten vorkommen.

Und die Aufgaben im Instrumentalspiel haben Unterabteilungen. Man darf

  • einen funktionierenden Fingersatz finden
  • Fingersätze auf ähnliche Teile übertragen
  • Anschlagsmuster automatisieren
  • etwas auswendig lernen
  • an der Gestaltung feilen
  • formale Zusammenhänge durchschauen

und dergleichen mehr. Aber im Grunde ist die Aufgabe immer wieder, eine Passage oder ein ganzes Stück wiederholend zu üben, um es sicherer, schneller und ausdrucksvoller wiedergeben zu können.

Das ist etwas sehr anderes als die Hausaufgabe für die Schule: es ist quasi das Wichtigste beim Lernen eines Instrumentes. Der Lehrer ist im Unterricht   lediglich dazu da, Feedback zu geben: "So bist du auf dem richtigen Weg!" oder "Das würde ich eher anders machen..."

Ganztagsschule: Abschaffung der Hausaufgaben

Im Zusammenhang mit der Ganztagsschule wird immer wieder gefordert "Hausaufgaben" ganz abzuschaffen. Das klingt human und logisch: niemand kann im Ernst wollen, dass Kinder (Kinder, nicht kleine Erwachsene!) sich von morgens früh bis nachmittags gegen 16.00 oder gar 17.00 Uhr in einer Institution aufhalten sollen, wo es zwar Freispiel, Pausen, Essenspausen und dergleichen gibt, aber eben nicht die völlig ungebundene Freiheit, die man zu Hause, bei sich hat, und dann auch noch Hausaufgaben zu haben.

Zunächst mal möchte ich einschieben, dass ich die Idee nicht gut finde, Kinder genauso lange irgendwo unterzubringen, wie ihre Eltern berufstätig sind. Schlimmer noch: ich bin ein Fan der alten Sechs-Tage-Woche, wie ich sie selber erlebt habe. Mehr Freizeit gleichmäßig auf die Wochentage verteilt, statt Arbeit und Schulanwesenheit auf wenige, möglichst lange Tage zu konzentrieren, um dann von Freitag am frühen Nachmittag bis Sonntag Abend eine ausgedehnte Freizeitstrecke zu haben, in die natürlich viel aufwendigere Unternehmungen hineinpassen, Gitarre üben aber eher nicht.
In den Sechzigern hatten weder viele Leute das Geld, sich ein Pferd zu halten, noch häufig am Wochenende zu Kurzurlauben aufzubrechen, die den Nachwuchs ja übrigens auch nur entwurzeln. Die Tendenz, Arbeit und Freizeit auch zeitlich immer mehr zu trennen, führt natürlich dazu, dass in den "Freizeitblöcken" auf verschiedene Weise mehr konsumiert wird: lange Wochenenden sind ein Wirtschaftsfaktor!

Wir schauen begeistert Tierfilme und finden die kleinen Wölflein im Reservat süß, die spielend raufen, um bald im ernst ordentlich bissig zu werden, aber unser Nachwuchs darf nur noch in Zeit-Reservaten frei spielen, meistens heißt es "Komm hier her, geh dahin, mach jetzt dieses, und du musst noch, nein, heute kannst du dich doch nicht verabreden!"
Überhaupt - "verabreden" - wir haben uns früher einfach getroffen...

Die Bewohner des "Planeten Ganztagsschule" sind immer unter Aufsicht: Unterricht, Mahlzeiten, betreute Hausaufgaben, Sport- oder musische Aktivitäten unter Anleitung, Freispiel unter der Aufsicht von Betreuungskräften: richtig alleine, richtig zu Hause, richtig unter und bei sich sind die kleinen Menschen selten.

Die Weigerung, zu funktionieren

Mich wundert nicht, dass besonders jüngere Kinder immer häufiger verweigern, so zu funktionieren, wie wir Erwachsenen das gerne hätten. Wer im Winter im Dunklen zur Schule geht und zurück kommt, dem fehlt einfach etwas. Also werden viele kleine subtile Streiks eingeschoben, wo es gerade passt.

Der Gitarrenlehrer gibt keine Zensuren und kann die Versetzung nicht gefährden. Also kann man da gefahrlos Leistung herunter fahren. Ob man ursprünglich selbst den Wunsch geäußert hat, ein Instrument zu lernen ist dabei egal: ich sehe das als Notwehr.

Natürlich versuche ich berufsbedingt, Leistung zu fordern und zu fördern, die Teilnahme an Vorspielen anzuregen oder gar mitmachen bei "jugend musiziert" anzuregen, aber wenn die Schüler nicht darauf anspringen, ist es halt so.

Für die "Hausaufgaben" hätte ich gerne einen anderen Begriff, der ihre Funktion genauer erkennen lässt. Aber was nützen Konstrukte wie "Übungsaufgaben", "Heimtraining" oder so etwas absurdes wie "intrumental workout", wenn das Problem das gleiche bleibt: Wer ein Instrument lernt, büßt noch mehr der geringen Freizeit ein. Ohne genügend Zeit, die zweck- und sinnfrei verbracht wird, wird ein Menschenjunges aber womöglich kein vergnügtes Mitglied der Gesellschaft.

Weniger wäre mehr

Wir brauchen nicht mehr, andere oder gar bessere Pädagogik, wir brauchen weniger davon. Und mehr selbstbestimmte Zeit für unsere Kinder, damit sie überhaupt die Möglichkeit haben so etwas zu machen wie ein Instrument erlernen.
Nur wer nicht pausenlos pädagogisch behandelt wird hat Lust und Muße, ein Tun zu verfolgen, das tägliches Üben erfordert, und dann zu entdecken, was alles in einem steckt.

Es gibt noch Dinge außerhalb von Schule, sinnfreiem Daddeln an Computer oder Spielkonsole und durchorganisierter Freizeit - ich bin der festen Überzeugung, dass das Aufbauen einer Fähigkeit, bei der ich mich selbst erlebe als einen, der zunehmend mehr kann und zum Fachmann für die Sache wird, etwas Wichtiges ist.

Ob Musizieren wirklich kognitive Fähigkeiten und soziale Kompetenzen fördert lassen wir mal dahingestellt. Am Anfang steht doch, dass ich Arbeit investiere und dabei entdecke, dass ich lernfähig bin. Was übrigens auch für Erwachsene, die nicht mehr Mathe für die Schule pauken, sondern im Berufsleben anwenden eine zutiefst menschliche Sache ist.

Wo geht der Kampf um die Bildung verloren?

Die Überschrift suggeriert, dass der Kampf nicht siegreich verläuft. Diese Behauptung bezieht sich auf die Gegenwart und die Entwicklungstendenzen. Natürlich war früher alles besser, oder konnte man etwa zu jeder Zeit sagen, dass es "im Moment gerade nicht so gut läuft"?

Verlieren wir den "Kampf um Bildung" immer mehr, weil sich um Babys zu wenig gekümmert wird, weil mit Kleinkindern nicht genug gesprochen wird, weil Kindern (im Kindergartenalter und auch im Grundschulalter) nicht genug vorgelesen wird, weil Kinder zu viel vor Bildschirmen sitzen?

Oder liegt die Schuld bei den Bildungseinrichtungen, gibt es zu wenig Mitarbeiter in Kindergärten, zuwenig Lehrer, sind die Klassen zu groß, ist die Struktur unseres Schulsystems wirklich falsch?

Der Begriff "Kindheit"

Wer Bücher wie "Kinderstuben", Herausgeber: Jürgen Schlumbohm, dtv, "Hört ihr die Kinder weinen", Herausgeber Lloyd deMause, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, "Das einsame Kind", Katharina Zimmer, dtv Sachbuch, oder Ekkehard von Braunmühls "Zeit für Kinder", Fischer Taschenbuch gelesen hat, weiß: "Kindheit" ist ein Begriff, der praktisch für jede Generation neu beschrieben werden muss.

In der ferneren Vergangenheit war die Zeit der Kindheit eher kurz und in vielerlei Hinsicht sehr an die Welt der Erwachsenen angepasst. Erst spät bildete sich die Vorstellung eines eigenständigen Zeitraums heraus, der auch als ein Schutzraum vor der rauen Realität der Erwachsenen verstanden wurde.

Während die Generationen der Witschaftswunderjahre aber einerseits unter strenger Erziehung inklusive körperlicher Gewalt leiden durften, erfreuten sie sich andererseits heute unbekannter Freiräume: man war sehr viel unbeobachtet, durchquerte im Grundschulalter alleine per Rad nachmittäglich die Kleinstadt um spielen zu gehen, machte 40-Kilometer-Radtouren, sammelte Eicheln oder Schrott und verkaufte dies - alles Dinge, die Kinder heute so nicht mehr kennen.

Die Beschreibung des Begriffs "Kindheit" für meine Kinder und die für meine eigene Kindheit muss sehr unterschiedlich ausfallen. Heute bringt man die Kinder zu den Spielkameraden, per-Anhalter-fahren scheint nicht mehr ratsam, vieles ist gefährlich geworden, die Freiräume sind enger.

Keine Zeit!

Vor allem zeitlich scheinen die Freiräume immer mehr beschnitten zu werden. Während man früher die Nachmittage zur freien Verfügung vor sich hatte, wenn die Hausaufgaben erledigt waren, ist heute die Schule verlässlich: pädagogische Mitarbeiter sorgen in Randstunden dafür, dass die Kinder täglich erst um eine bestimmte Zeit nach Hause kommen. Da diese Nicht-Lehrer schon mal da sind, übernehmen sie ausfallenden Unterricht.

Natürlich sollten genug "Lehrerstunden" da sein, um die Stundentafel wirklich auszufüllen, aber da die Statistik so besser aussieht, gewöhnt man sich doch schnell an die neue Technik. Das Ministerium kann auf bessere Zahlen verweisen, die Lehrkraft kuriert sich doch einmal aus, wenn es nicht mehr geht, und die Kinder... sind betreut.
Aber es geht noch weiter: Wozu Zeit vergeuden? Nachmittagsunterricht ist DIE Lösung, um unseren Nachwuchs noch schlauer zu machen!

Halten wir kurz inne, um zu überlegen, ob das wirklich stimmen muss! Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ausreichend Schlaf wichtig für das Lernen ist. Schläft man genug, bleiben die Dinge, die man gelernt hat besser im Gedächtnis. Man muss also NICHTS tun (Wenn man schläft, tut man doch nichts?), um etwas besser zu erreichen! Ein feines Beispiel!

Was wäre, wenn die Idee "je mehr Zeit in der Schule, desto besser" falsch ist? Die Gegenthese wäre analog zur "Datenverarbeitung" während der Tiefschlafphase zu denken: für eine gewisse Zeit des Lernens braucht ein Kind freie, wirklich freie Phasen, damit das Gelernte verankert wird.
Natürlich "tut" man etwas während man schläft, unter anderem träumt man. Und wenn Kinder spielen, hat das wahrscheinlich sehr viel damit zu tun, dass sie alles, was sie bewusst oder unbewusst aufnehmen in ihr gesamtes So-Sein integrieren. Das ist wichtiges Lernen, das aber eben in Freiräumen stattfinden muss!

Spätentwickler

Der Mensch ist in vielerlei Hinsicht ein komisches Wesen, vor allem ein Spätentwickler. Kein Tier braucht so lange, bis es sich voll verantwortlich um sich selber (und den nächsten Nachwuchs) kümmern kann, wie der Mensch. Bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt bringt er (vor allem der männliche Teil) sich und andere durch wenig verantwortliches Handeln immer wieder in Gefahr. Kinder haben zwar Selbstschutz-Instinkte, aber manchmal muss man auch auf sie aufpassen.

Damit will ich sagen, dass der Mensch eine lange Zeit braucht, in der er immer wieder die Verantwortung abgeben können muss. Kinder sollten nicht mit 11 Jahren schon den Lebensunterhalt für die Familie verdienen müssen, sie sollten Dinge (bei denen niemand sonst geschädigt wird) ausprobieren dürfen, Kindern sollten spielen dürfen! Wirkliche Freiräume im eigenen Umfeld scheinen mir sehr wichtig zu sein.

Dazu muss aber das eigene Umfeld auch zur Verfügung stehen, das heißt: die verantwortlichen Erwachsenen müssen Zeit für die Kinder haben, zumindest da sein als Ankerpunkt, zu dem man zurückkehren kann, wenn die Exkursion beendet ist.
Solche Ideen sind natürlich mit dem Wunsch nach oder der Notwendigkeit für zwei Einkommen und möglichst ausgedehnter Kinderbetreuung nicht vereinbar und furchtbar konservativ.

Zeitungslektüre

Wenn man als Pädagoge arbeitet, springen einen bestimmte Artikel nur so an. Ob das die Statistik darüber ist, wie viel Zeit Kinder mit Computerspielen verbringen, oder der Bericht über die Austattung der Grundschulen betreffs Inklusion - man liest sie, und man denkt sich seinen Teil. Das folgende Zitat ist nur ein Beispiel - seit ich diesen Text geschrieben habe und Korrektur lese gab es in der Zeitung fast täglich Artikel, die ich genauso gut hätte ziteren können.

Am 21.7. 2014 fand sich im Weser Kurier ein Kommentar von Silke Looden zum Ausbau der Ganztagsschulen unter der Überschrift Unzureichend, der mich schier begeistert hat. Es heißt dort:

...Die sogenannten offenen Ganztagsschulen bieten an drei Tagen in der Woche zwei Schulstunden Freizeitspaß für Interessierte. Das reicht nicht. Mancherorts wird das Angebot so wenig nachgefragt, dass Mensen schon wieder schließen mussten. Nur ein verpflichtendes Angebot am Nachmittag schafft echte Chancengleichheit und gezielte Förderung - vor allem für jene, die aus welchen Gründen auch immer zu Hause kaum oder keine Unterstützung bekommen. Sei es, dass Eltern keine Zeit haben oder sich diese nicht nehmen...

Mein Begeisterungsausbruch erfolgte nach dem Satz Nur ein verpflichtendes Angebot.... Das ist sensationell. Die Kommentatorin schreibt, dass Angebote wenig nachgefragt werden - da müssten die ersten Gedanken doch sein: Warum ist das so? Stimmt die Qualität nicht? Ist die Austattung der Schule so, dass die Angebote wirklich gut sind, sodass die Kinder kommen wollen? Oder hat es damit zu tun, dass die (finanzielle) Austattung eben nicht gut ist, dass bei der Auswahl der Kooperationspartner nur nach dem billigsten Anbieter gesucht wird?

Welche Rolle spielt der Unterricht am Vormittag? Gibt es dort schon viele Fehlstunden von "richtigen" Lehrkräften, die durch Springkräfte ersetzt werden müssen, die gar nicht die Qualität und Stringenz des normalen Unterrichts erbringen können? Haben die Kinder deshalb vormittags schon genug "Quasi-Leerlauf", und deshalb nachmittags keine Lust mehr darauf? Könnte es also sein, dass die Nachmittagsangebote wirklich nicht (oder nicht so) gewollt werden?

Diese Fragen werden nicht gestellt. Statt dessen wird verkündet: die Anwesenheit nachmittags muss verpflichtend sein! Die Menschen müssen zu ihrem Glück bezwungen werden! Kinder, und auch Eltern wissen nicht so richtig, was sie wollen und was gut für sie ist!

Natürlich zuckt jemand wie ich bei solchen Thesen zusammen, ist doch die Ausweitung des Unterrichts in den Nachmittag einer der Hauptgründe dafür, dass immer weniger Kinder Instrumentalunterricht nehmen oder angemessen lange durchhalten. Bestimmte Formen von Bildung werden so immer mehr an den Rand gedrängt. Sportvereine, Kirchen und andere Organisationen klagen auch - das ist bekannt.

Gerade deshalb finde ich es so erstaunlich, dass die auf der Hand liegenden Fragen nicht gestellt werden. Die Zeitungen sind täglich voll von Artikeln über Inklusion und ihre Umsetzung, Fortbildungen, Lehrerschlüssel und die Schließung von Förderschulen. In Texten zum Thema werden hehre Ziele ausgerufen, aber wer in der täglichen Arbeit die Realität hautnah erlebt, fragt sich oft, auf welchem Planeten die Verfasser der Artikel, der Erklärungen und der Anweisungen leben.

Bildung

Mein Thema sollte die Bildung sein. Für mich ist Bildung "das, was man lernt, wenn man eigentlich schon genug kann." Mit "Bildung" untrennbar verbunden ist der "Bildungshunger". Das ist ein bildhaftes Wort für den Antrieb, der einen mehr wollen lässt.

Man lernt lesen und rechnen in der Schule, und man lernt sich in der Welt zurecht zu finden. Dabei kann es um die Fähigkeit gehen, einen Behördengang zu bewältigen, oder darum, im Internet nicht einem Mietbetrüger aufzusitzen.
Nach dem Pisa-Schock gab es Fernsehshows zum Mitmachen: da wurden Einspielfilme gezeigt, zu denen hinterher überraschende Fragen und Aufgaben gestellt wurden, und dann konnte man ermessen, ob man "halbwegs klar kommt" oder das Wesentliche einer Information nicht herausfiltern kann, das Kleingedruckte nicht versteht, nicht abschätzen kann, was es kostet, ein Bad zu fliesen.

Bildung beginnt für mich damit, dass ein Mensch sagt "So, jetzt kann ich lesen - jetzt will ich auch was lernen durch diese Fähigkeit!"

Es geht dabei nicht um den riesigen Katalog dessen, was ein Zentraleuropäer mal gelesen oder gelernt haben sollte, den Dietrich Schwanitz in seinem Wälzer "Bildung" (Goldmann Verlag) aufgestellt hat. Mir geht es um den Hunger! Warum hält man es eigentlich für eine angemesse Reaktion, wenn Eltern sagen "Ich kann keine Noten und kann meinem Kind nicht helfen."? Warum sagen sie sich nicht "Na ja, eine Gitarre ist ein Ding, dazu gibt es so etwas wie eine Gebrauchsanleitung. Ich bin vielleicht nicht musikalisch, kann keinen Takt halten und nicht singen, aber wo eine Note auf der Gitarre gegriffen wird, das kann man doch herausfinden!"

Warum scheint es normal, dass wir Deutschen immer noch schlecht Englisch verstehen oder sprechen, während Skandinavier oder Holländer das viel besser können? Früher konnte man sagen "Ja ja, da werden die englischen Filme nicht synchronisiert...", aber heute... das Internet spricht Englisch! Youtube ist voll von Möglichkeiten, sein Hörverstehen aufzupeppen! Aber welcher Jugendliche, der um 6 Uhr aufsteht und nach 16 Uhr aus der Schule kommt hat dazu schon noch Lust und Energie? Diese Arbeitstage ersticken den Bildungshunger!

Die spontane Reaktion "Das kann ich nicht, und wahrscheinlich werde ich es auch nicht lernen können!" überträgt sich auf unsere Kinder.

Schreiben, lesen, Minimalismus

Sehr hübsch war es auch, vor einigen Wochen mal wieder eine Diskussion zum Thema "Schreiben" in den Printmedien zu verfolgen. Schreibschrift oder vereinfachte Ausgangsschrift, oder doch lieber nur noch Druckschrift, die sich mit der Zeit hoffentlich zu einer individuellen, aber lesbaren Handschrift entwickelt...?
Ja, schreiben unsere Schulkinder denn überhaupt noch? Lückentexte und Ankreuztests habe ich 73/74 in den USA kennengelernt - so etwas hatte ich vorher noch nicht gesehen. Heute ist das gängige Münze in deutschen Schulen, warum sollte man auch einen ganzen Satz niederschreiben, wenn es nur um ein Wort geht?
Übeprozesse? Was ist das denn? Es geht um Lerninhalte!

So wird auch mein Ausruf "Das musst du lesen, das ist ein tolles Buch!" sofort vom Tisch gewischt, wenn die Rede von "Die unendliche Geschichte" war ("Ja, kenne ich, habe ich gesehen!"), und Oberstufenschüler reagieren meist völlig perplex, wenn ich auf die Aussage "Oh, wir lesen gerade 1984 in Englisch..." ekstatisch mit "Ja, total wichtiges Buch, aber 'Animal Farm' von Orwell ist auch interessant, und kennst du denn 'Schöne neue Welt' von Huxley? Und dann musst du unbedingt auch 'Die Insel' lesen...".

Die Vorhersagen einiger dieser Autoren, dass wir uns in Zukunft (und sie reden teilweise genau von unserer Zeit) von Unterhaltungsmedien einlullen lassen, und uns weder für Politik noch für unsere Kultur interessieren werden, scheint bedrohlich real.

Um Bildung zu erlangen braucht man Muße, und Kinder brauchen Eltern, die ihnen vorlesen, die den Musikunterricht bezahlen und Zeit haben, sie dort hin zu bringen. Und die auf die Frage "Mama, kannst du mir mal helfen?" erwachsen reagieren, das heißt wirklich überlegen, ob sie nicht die Lösung finden können.

Die Taktik der Bildungspolitiker, zu sagen "Wir machen jetzt Inklusion", die Klassengrößen aber gleich zu belassen, für die problematischen Fälle einige wenige Zusatzstunden einzuräumen und die Kinder einfach täglich länger in die Schule zu beordern, egal, was dort passiert, es wird schon hoffentlich helfen - scheint mir nicht von großer Weisheit geprägt. Irgend etwas muss in den Ländern, die bei "PISA" immer auf den vorderen Plätzen landen drastisch anders laufen, sonst würden Menschen wie ich nicht ständig über sinkende Leistungsfähigkeit jammern!

Ich glaube, dass Kontakt mit Personen für Kinder wichtig ist, die sie wirklich bedingungslos annehmen. Jeder Erzieher, Pädagoge oder Betreuer hat eine Grundeigenschaft, die Kinder spüren: er ist verantwortlich solange er dafür bezahlt wird. Oft ist er darüber hinaus engagiert, aber irgendwann MUSS er auch abschalten können. Selbst Oma und Opa, die die Enkel liebevoll übernehmen, sind nicht die ultimative Anlaufstation.
Wir leben in einer Welt, in der die Kinder sich auf der Zugreise vom iPod Geschichten erzählen lassen, und in der ein Buchtitel wie "Kinder brauchen Märchen" (Bruno Bettelheim) fast mystisch klingt. Ergebnisse dieses riesigen Experimentes stehen noch aus, die sich abzeichnenden Tendenzen machen nicht immer Hoffnung.

Der Digitalisierungshype

Im Winter 2018 geht es, wenn es um Bildungspolitik geht, um Digitalisierung. Unsere Kinder lernen nichts und geraten ins Hintertreffen, weil die Schulen zu schlecht ausgestattet sind, das Breitbandnetz nicht ausgebaut ist, Tablets und Smartboards fehlen und die Lehrer fortgebildet werden müssen! Da liegt der Hund der aktuellen Bildungsmisere begraben: die Kinder sollen lernen, zu - ja, was denn eigentlich genau?

Es tobt ein wilder Streit darüber, ob Schülern erlaubt sein soll, ihre Smartphones in der Schule anzuschalten, ob sie sie gar im Unterricht benutzen sollen. Tablets für alle wären doch bestimmt die beste Lösung, schließlich ist da der Viewport größer! Also, was wollen wir der nächsten Generation beibringen, was genau soll digital gelernt werden, oder soll Digitales Gegenstand der Vermittlung sein?

Und... gibt es Risiken und Nebenwirkungen bei dieser Überhöhung der Digitalisierung?

Manuelles und Geschicklichkeit

Als ich vor knapp 20 Jahren mit dem Gruppenunterricht in der verlässlichen Grundschule begann, gab es immer ein Kind in der neun Kinder umfassenden Gitarrengruppe, das sich nicht besonders geschickt anstellte. Von oben über den Hals greifen, versuchen, mit der Greifhand auch zu zupfen, statt die Saiten auf die Bünde zu drücken, mit nur einem Finger anschlagen, die Hand quasi flach auf die Decke zu packen und alles mit dem Daumen anzuschlagen, die Gitarre verkrampft festhalten statt darauf zu spielen seien Beispiele für das, was ich meine.
Es läßt sich schlecht beschreiben - man muss davor stehen und es sehen, und sich ratlos fragen "Was mache ich, wie korrigiere ich das?". Man macht etwas vor, hofft, dass der kleine Mensch beobachtet und dann korrekt nachahmt, aber er macht etwas komplett anderes!

Es gibt unterschiedliche Antwortmöglichkeiten, weshalb man solchen Problemen begegnet: die Fähigkeit, zu beobachten könnte nachgelassen haben, mangelndes Körpergefühl könnte dazu führen, dass ein Mensch eine Beobachtung nicht in eine entsprechende Handlung umsetzen kann, oder die manuellen Fertigkeiten sind einfach weniger entwickelt.
Als Begründung für die verschiedenen Ansätze aber wurden oft zu großer Fernsehkonsum, Computerspiele und aktuell übertriebener Handygebrauch genannt.

Was auch immer der wirkliche Grund sein mag - in den genannten knapp 20 Jahren blieb die Entwicklung nicht stehen: heute sind in der Neunergruppe ein bis vier Kinder, die sich leidlich geschickt anstellen, Wechselschlag lernen, im 1. Bund mit dem ersten Finger und im 2. Bund mit dem zweiten Finger greifen, gerade sitzen, nicht fünfmal in der Stunde die Fußbank umwerfen etc. Die anderen können das alles nicht. Das ist meine Beobachtung; wer das nicht glaubt mag es besser wissen, ich bin ja auch tatsächlich nur ein einzelner Gitarrenlehrer.

Die Handyseuche

Rezente Elterngenerationen waren gehalten, den Fernsehkonsum des Nachwuchses zu begrenzen und die Zeit, die mit Computerspielen verbracht wurde gegebenenfalls als erzieherische Strafmaßnahme zu beschneiden. Außerdem war die Diskussion über Gewaltinhalte lebhaft.

Das portable schlaue Telefon bringt im Vergleich zu PC und Spielkonsole drei neue Dimensionen ins Spiel:

  • Man hat es in der Hosentasche und neben dem Kopfkissen, also immer dabei.
  • Es dient der Kommunikation - die ist wichtig.
  • Man lernt nicht, mit mehreren Fingern zu agieren, wie einst auf der Schreibmaschine.

Die Kinder sind auf dem Spielplatz - was machen sie da? Bolzen, oder mit dem Handy auf der Schaukel sitzen?
Es wäre Zeit, zu schlafen, aber die Gruppe whatsappt noch munter. Da kommt man lieber unausgeschlafen in die Schule als ausgeschlossen aus der In-Group.
In der Zeitung ist ein Foto aus einer Schule in Bayern. Ein Grundschulkind hält ein Tablet mit der linken Hand und tippt mit dem rechten Zeigefinger auf dem Touchscreen einen Buchstaben, den man beim Schreiben mit zehn Fingern mit der linken Hand tippen würde.

Kurz und schlecht: es ist wieder eine neue Diskussion entbrannt, über den Suchtfaktor des Smartphones, über manuelle Verarmung, über Haltungsschäden, über das Ausbleiben realer Kommunikation zwischen Menschen. Lauter wirklich schlimme Dinge. Was tun wir?

Digitalisiertes Lernen

Wir fordern die Digitalisierung der Schulen. Das ist sicher gut.

Digitalisiertes Lernen müsste heißen, dass ganz normale (analoge) Inhalte mit digitalen Medien gelernt werden. Elektronische fill-in-the-blank-Tests, Frage-Antwort-Spiele wie hier bringen sicher etwas, aber auch dabei ist lesen können immer noch die Basis. Audiodateien sind toll für das Hörverstehen von Fremdspachen. Mit Smartboards können Lehrkräfte vielleicht schneller, bunter und unterhaltsamer Inhalte an die Tafel bringen, die ganzen Nutzungsdimensionen sind jemandem wie mir ja verborgen (und die Lehrer müssen auch erst lernen, damit umzugehen). Aber lernen die Kinder so wieder flüssiger lesen, entdecken sie die Lust am Lesen, lernen sie so Kopfrechnen? Und was ist mit den Fähigkeiten, deren Fehlen der Gitarrenlehrer beweint?

Wenn tatsächlich das Lernen mit digitalen Medien die momentan beobachtbaren Defizite beheben würden, dann müssten in Tablet-Klassen doch mehr korrekte Dative zu hören, weniger Schreibfehler an schwarzen Brettern zu sehen, und bessere Umgangsformen und mehr Hilfsbereitschaft wahrzunehmen sein?

Digitale Inhalte

Natürlich sollte ein wichtiges Ziel des Lernens mit digitalen Medien die Vermittlung von digitalen Inhalten sein. Auch darüber wird berichtet. Da geht es um elementare Programmierschritte und programmierbare Roboter. Das klingt interessant und bringt technikaffine Kinder vielleicht in Richtung MINT-Fächer. Aber lernt die breite Masse dabei wirklich etwas über Computer, programmieren und Digitalisierung?

Die Entwicklung der PCs und der mobilen Geräte ist immer mehr in Richtung Vereinfachung und Bildhaftigkeit gegangen. Man klickt auf Symbole. Das ist die Ebene von "Ich will das da!". Alles, was daran digital ist, läuft in der Maschine ab und hat herzlich wenig mit meinem Gehirn und meiner Bildung zu tun. Wenn ich Tastenkombination anlege, die sechs Dateien gleichzeitig öffnen, ist das auch noch nicht wirklich viel tiefer gehend oder strukturell anders. Unsere Musikschul-Webseite läuft in Wordpress - HTML schreiben braucht man dafür nicht mehr zu können (dafür wird sie dauernd gehackt). Es wird alles immer mehr an der Oberfläche gehalten, der Endnutzer muss immer weniger können.

Wird in den Tablet-Klassen also digitale Kompetenz erworben? Wissen die Schüler, wie man sich gegen Attacken wehrt, können sie problemlos ein IMAP-Konto anlegen, können sie ein Script zur Datensicherung unter Windows schreiben, kennen sie den Unterschied zwischen "speichern" und "speichern unter"?

Investitionen in die Zukunft

Es soll Geld in die Hand genommen werden, um das Beitbandnetz auszubauen, W-Lan in Schulen einzurichten, Klassen mit Tablets auszustatten. Brauchen wir das wirklich als Mittel gegen die nachlassenden Leistungen?

Dass Lehrer fehlen ist dann und wann auch zu hören und zu lesen, dass Inklusion mit zu wenigen Fachkräften nicht funktionieren kann ebenso. Mehr Lehrer pro Schüler entspräche mehr Zeit für die kommende Generation - wäre nicht vor allem Geld, das in Zeit investiert würde eine Hilfe? Und wären wir da nicht alle gefragt - ich erinnere an die "Heute schon mit ihrem Kind gesprochen" - Poster, die in Schulen und Bibliotheken aushängen? Mehr Zeit für spielen, vorlesen, basteln würde die Geschicklichkeit der jungen Kinder sicher nicht verschlechtern.

Auswirkungen digitalen Lernens

Wenn man sich etwas tiefer gehend mit digitalen Dingen beschäftigt, ist man gezwungen, ungewöhnlich konzentriert und abseits von Unterhaltendem nachzudenken, komplexe Syntax von Programmen zu begreifen, also Dinge, für die meine Deutsch- und Lateinkenntnisse definitiv nicht ausreichen. Sich mit digitalen Inhalten zu beschäftigen müsste sich folglich positiv auf die Leistungsfähigkeit von Schülern auswirken. Wenn auch dabei herauskäme, dass die Kinder sagen "Ich konnte wegen eines Besuches meiner Oma nicht üben." statt "Ich konnte nicht üben, weil meine Oma war da.", und wenn sie mehrere Finger an beiden Händen benutzend Lieder auf der Gitarre spielen könnten, dann hätten die Investitionen in Technik auch ihr Gutes.

So wie ich der Meinung bin, dass es vielleicht nicht so sinnvoll ist, ab der 5. Klasse jährlich den Quintenzirkel zu erklären, den alle musikalisch nicht so interessierten Kinder weder verstehen noch abspeichern, könnte ich mir vorstellen, dass mit digitalen Inhalten auch etwas später begonnen werden könnte. Dann nämlich, wenn das Abstraktionsvermögen weit genug entwickelt ist. In den Jahren davor könnte man die gewonnene Zeit nutzen, um analoge Papierflieger zu basteln oder allgemein Dinge zu tun, die Geschicklichkeit, Beobachtungs- und Vorstellungsvermögen fördern. Warum war Schulsport noch mal wichtig?

Auswirkungen der Digitalisierung der Schulen

Die Leserbriefe an diesem Sonntag befassen sich zu über fünfzig Prozent mit den Artikeln der Woche zur Digitalisierung. Zusammengefasst wiederholen sich diese Fragen:

  • Wie viel verdient die Industrie an der Austattung der Schulen, wieviel Lobbyarbeit steckt hinter den Ausstattungsplänen?
  • Wie viele LehrerInnen und ErzieherInnen könnte man für das in Aussicht gestellte Investitionsvolumen einstellen?
  • Helfen die "Rollatoren fürs Gehirn" wirklich bei der Ausbildung der Fähigkeiten, die man fürs Leben braucht?

Als Gitarrenlehrer würde ich noch mal unterstreichen: der Verlust der Fähigkeit, genau zu beobachten, und dann die Beobachtung in eigene komplexe Bewegungen umzusetzen, ist eine Katastrophe. Wenn man ein wenig überlegt, was alles beim Instrumentalunterricht, weiterhin beim Lesen von Noten, beim Beachten von Rhythmus, beim Hören auf andere, beim Ertasten des Griffbrettes im Gehirn passiert, muss einem doch klar werden, dass das Erlernen eines Instrumentes ein Paradebeispiel für die Verknüpfung unterschiedlicher Bereiche des Denkens ist.

Wenn die Voraussetzungen für diese Fähigkeiten sich so verschlechtern, wie es mir in den letzten Jahrzehnten schien, sollte man überlegen, ob man nicht an anderen Stellschrauben drehen sollte als denen, die uns manuell immer mehr verarmen lassen. Begreifen ist ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Wischen wir es nicht weg!