Bewusst wahrnehmen
Was man hört notieren oder analysieren zu können, was man sich vorstellt benennen oder aufschreiben zu können: das sind die zwei Seiten der Medaille "Gehörbildung". Musikalisch begabte Menschen tragen diese Fähigkeiten in sich, müssen die Umsetzung ins Schriftliche aber lernen. Deshalb gibt es dieses Fach. Absoluthörer können gehörte Töne einfach so benennen, erkennen aber Zusammenhänge vielleicht nicht.
Gehörbildung ist ein schwieriges Gebiet, bei dem man sich heute von netter Software und Computersoundkarten helfen lassen kann. Ich habe als Teenager Aufgaben auf dem alten Tonband aufgenommen, wobei das Klavier schlecht gestimmt war und das Bandgerät leicht eierte, und diese dann 2 Wochen später aufzuschreiben versucht. Ja ja, die schlechten alten Zeiten...
Gehörbildung im Instrumentalunterricht
Die Gehörbildung wird im Instrumentalunterricht oft vernachlässigt. Wenn man Gruppen unterrichtet, ist die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der einzelnen Schüler meist sehr unterschiedlich, und im Einzelunterricht begegnet man jungen Menschen, die keine Zeit für nichts mehr haben. Schulstress und Ablenkung sind die Pole, zwischen denen man Räume finden muss, in denen man mit Ruhe etwas tut, was sehr exotisch scheint: Außer dem Üben soll ich auch noch hören lernen, was jemand anderes spielt?
Es gibt alles auf Knopfdruck - warum sollte man etwas analysieren und dann reproduzieren lernen? Man braucht also eine große Eigenmotivation beim Schüler, um die Sache anzuschieben.
Darüber hinaus braucht man aber auch Stunden und Stunden Zeit, um die Grundlagen zu legen:
natürlich kann ich meine Fünfergruppen raten lassen, ob ich einen Dur- oder Mollakkord spiele,
aber - was bitte sehr ist ein Dur- oder Mollakkord?
Für sinnvolle Gehörbildung sollte man eine ganze Menge der Inhalte beherrschen, die sich
hier auf den Seiten über Grundlagen, Tonleitern, Intervalle und Akkorde finden, oder
entsprechende Bücher durcharbeiten.
Da diese Voraussetzung selten gegeben ist, sollte man sich vielleicht auf die Schüler konzentrieren, die hier überhaupt Interesse zeigen, die wissen, dass eine Melodie-Erkennungs-App zwar ein netter Gimmick ist, das eigentlich Erstaunliche im zugänglichen Universum aber menschliche Intelligenz und Musikalität sind.
Arbeitsbereiche
Was sind konkret die Lernziele, ganz egal, ob man als "Hobbymusiker" nicht nur seine Tasten drücken können möchte, sondern auch seine Tonvorstellung entwickeln will, oder ob man sich auf eine Aufnahmeprüfung für ein Musikstudium vorbereiten will?
- "Rhythmusdiktat" dieses Wort bedeutet, dass man einen Rhythmus vorgespielt bekommt, den man notieren soll.
- Melodien hören - dafür braucht man das sichere Hören von Intervallen und ein Bewusstsein von Tonleiterstufen. Je weniger eine Melodie tonal strukturiert ist, desto mehr ist man auf Intervalle angewiesen.
- Mehrstimmiges Diktat - wenn man eine zwei- oder mehrstimmige Phrase erfassen will, benötigt man Hilfe von den Harmonien.
- Kadenzen und Harmoniefolgen - hier liegt die Betonung darauf, zu erkennen, welche Harmonien oder Funktionen man in einem Stück gerade hört.
Einstiegsmöglichkeiten
Man kann alles "passiv" machen, also sich Intervalle, Melodien, Akkorde vorspielen lassen und diese dann benennen, aufschreiben, bestimmen, aber man kann sehr vieles auch aktiv erarbeiten. Die Einstiegsmöglichkeiten in die genannten Bereiche wären:
- Rhythmen kann man sich ausdenken, dann klatschen, überprüfen, oder Rhythmen von bekannten Stücken notieren.
- Für das melodische Hören sollte man das Stufenbewusstsein entwickeln, Kadenzen spielen und singen, und Intervalle auf- und abwärts singen üben. Dafür kann man sich erstmal Beispiele merken.
- Um das mehrstimmige Hören zu entwickeln, kann man selber Phrasen schreiben, und danach überprüfen, ob man sie sich richtig innerlich vorgestellt hat.
- Harmonien hören lernt man auch über die Vorstellung, über begleiten nach dem Gehör, und aufmerksames Spielen erweiterter Kadenzen.
Selbständig arbeiten
Gehörbildung ist eigentlich schon "Frontalunterricht", also einer gibt Aufgaben, der andere antwortet oder schreibt auf. Man kann sich aber auf diese Phase, die einem zum Beispiel unweigerlich im Musikstudium begegnet, ganz gut vorbereiten, indem man alleine übt.
Abgesehen von den technischen Hilfsmitteln, die im nächsten Abschnitt aufgezählt werden, kann man durch eigenes Vorstellen oder Blattsingen eine ganze Menge tun. Die wenigen Übungen, die ich hier nenne, beziehen sich zunächst auf den melodischen Aspekt, - Intervalle auf- und abwärts singen, Stufensingen - dann auf Akkorde.
Intervalle singen, Melodien vom Blatt singen, Drei- und Mehrklänge singen, Rhythmen klopfen und üben, innerlich Vorgestelltes notieren, komponieren - was man selbst aktiv übt, bereitet einen auf die passive, rezeptive Seite der Medaille vor und ist vielleicht der wertvollere Teil der Bemühungen! Ich kann besser wieder erkennen, was ich selbst singen kann!
Welche "Hilfsmittel" habe ich?
Gehörbildung muss immer mit Überraschung verknüpft sein, denn wenn man die Lösung schon weiß, braucht man nicht nachzudenken. Also braucht man Hilfe von außen, oder technische Hilfe zur Selbstüberlistung.
- Man hat immer sich selbst als Arbeitspartner. Für die aktive Seite (selber singen, Vorgestelltes aufschreiben) ist das der Einzige, den man braucht.
- Technische Hilfsmittel. Früher Tonbandgerät oder Kassettenrekorder, heute eher Software für den Compi oder die Aufnahmefunktion am Smartphone. Tricks zur Selbstüberlistung wie "blind auf ein Blatt tippen", Würfel für zufallsgenerierte Aufgaben wie "schwarze 5 = singe den Durdreiklang, dessen Tonart 5 ♭s hätte (Des-Dur); weiße 3 = singe A-Dur", beim nächsten Durchgang Mollakkorde... oder "singe 7 Halbtonschritte hoch, danach 11 runter"... Fantasie ist gerade bei Gehörbildung Trumpf!
- Gleichgesinnte Freunde. Wenn man jemanden hat, der 10 Minuten Intervalle am Klavier anschlägt und sagen kann, ob man richtig gehört hat, und dafür als "Bezahlung" gleiche Münze akzeptiert, ist das toll! Wenn man keinen solchen Partner hat, muss man suchen: Aushang in der Schule, Musiklehrer ansprechen, in der Musikschule fragen. Der Kollege muss ja nicht dasselbe Instrument spielen, die Nachfragen also offen formulieren! Wenn die Kenntnisse auf dem Tasteninstrument (ist wohl das Gerät der Wahl für Gehörbildung) lückenhaft sind... Mühe geben! Üben! Das macht mich nicht dümmer, und ich muss ja kein Chopin - Prélude lernen!
- Unterricht. An vielen Musikschulen gibt es die Studienvorbereitende Ausbildung. Man muss nicht unbedingt Musik studieren wollen, um daran teilzunehmen. Dort sollte es jedenfalls auch Unterricht im Fach Gehörbildung geben.
- "Theoretisches" Wissen. Gehörbildung ist kein Fach für "Musiklehre - Couch - Potatoes"! Wer noch lange überlegen muss, wie die kleine Septime über as heißt, oder welche Töne ein verminderter Septakkord über dis hat, muss noch Hausaufgaben machen.
-
Freundlichkeit, Abwechslung, Vernetzung. Hat man mit etwas Schwierigkeiten -
behutsam weitermachen, leichte Aufgaben wählen, Zeit geben, Beispiele wiederholen.
Um zu verhindern, dass man sich irgendwo festbeißt sollte man immer wieder Aufgabenstellungen und Themen variieren. Also nicht endlos geschlossene Akkorde geben, sondern zu arpeggierten wechseln, und dann überhaupt ein Rhythmusdiktat einschieben.
Immer wieder Querverbindungen aufspüren: beim Melodiediktat über Kadenzschlüsse nachdenken, Intervalle Dreiklängen zuordnen, Stufenhören mit Intervallen verbinden. Da alles zusammen wachsen muss, ist es hilfreich, Dinge eben nicht isoliert zu betrachten. Strenges Schweigen zwischen Diktierendem und Hörendem kann mal lustig sein, aber Beobachtungen zu diskutieren ("Das ist doch wie in...") halte ich für produktiver!
Welche Themen kann / sollte man beackern?
Womit soll man beginnen? Am besten mit einem Bereich, in dem man sich etwas sicher fühlt und schnell Erfolg hat.
-
Dur / Moll bestimmen. Ein freundlicher Einstieg: erst mal "auf Zuspiel"
Dreiklänge als Dur oder Moll erkennen. Anfangs in der Mittellage des Klaviers, je nachdem was
leichter fällt zunächst die Töne nacheinander oder geschlossen angeschlagen, dann höhere und
tiefere Lagen, sowie Umkehrungen.
Aktiv: Dur- und Mollakkorde singen, auch in Umkehrungen. -
Intervalle. Bei den Intervallen würde ich raten, mit dem Singen zu beginnen,
nachdem man für jedes Intervall ein
Beispiel
gespeichert hat. Zufallsbestimmte Übungen helfen.
Passiv sollte man die Töne nacheinander, auf- und abwärts, gleichzeitig gespielt, und zunehmend in extremen Lagen hören üben. Der Aufgabensteller kann alles schwieriger machen, indem er tonal entlegene Abfolgen wählt.
Mit der Zeit findet man sicher heraus, welche Intervalle schwer fallen, welche man gerne verwechselt. -
Melodiediktat, ein- und mehrstimmig. Vorgespielte Melodien, Teile aus Stücken
etc. aufzuschreiben ist ein zentrales Thema. Der Diktierende sollte genug von der Sache
verstehen, um Aufgaben nach Schwierigkeit zu ordnen.
Der Schreibende hilft sich, wenn er ein gutes "Stufenbewusstsein" hat, d.h.: wenn ich nicht mehr sicher bin wegen des Intervallsprunges, den ich gerade höre, hilft mir vielleicht, die Zielnote (einer Phrase) einer Tonleiterstufe zuzuordnen. Dazu brauche ich die Querverbindung zu den Kadenzlagen und eben das Stufenhören.
Beim Diktieren / Hören Phrasenlängen variieren! Nicht immer nur zwei Takte vorspielen, sondern immer wieder zwischendurch längere Strecken, damit Sequenzen und auf Kadenzen beruhende Abschlüsse erkannt werden.
Aktiv: Blattsingen und einfache Stücke innerlich vorstellen, danach überprüfen, ob man sich die Sache richtig vorgestellt hat. Etwas komponieren und nach Fertigstellung einer Phrase kontrollieren, ob man richtig geschrieben hat. Das ist natürlich kein Komponieren um des Komponierens willen! -
Stufenhören. Vorgespielte Melodiestücke auf Stufenziffern nachsingen bzw.
sagen, was man hört.
Aktiv: Lieder oder Intrumentalstimmen auf Stufenziffern absingen. -
Dreiklänge. Dreiklänge, nach und nach außer Dur und Moll auch verminderte und
übermäßige, in Grundstellung, später auch gemischt in Umkehrungen hören. Arpeggiert und
geschlossen, in mittlerer und zunehmend in hoher und tiefer Lage.
Aktiv: Dasselbe singen, nach dem Zufallsprinzig oder mit Partner auf Zuruf mit gegebenem Anfangston, auf- und abwärts. - Septakkorde. Im Prinzip genauso wie die Dreiklänge zu behandeln, wobei das Ganze bei vier Tönen natürlich wesentlich komplizierter wird! Vorher die leitereigenen Septakkorde wiederholen!
-
Akkordfolgen, Kadenzen. Benennen, welche Akkordfolge am Klavier gespielt
wurde. Kadenzlagen hören, unterschiedliche Kadenzen in Funktionsanalyse benennen oder komplett
aufschreiben. Das ist in enger Lage, wenn der Diktierende die Stimmführungsregeln beachtet zum
Teil auch "theoretisch" zu erschliessen.
Aktiv: Unterschiedliche Liedharmonisierungen vorstellen und danach ausprobieren. - Aktiv: Begleiten nach Gehör. Bekannte Lieder nach Gehör spielen, oder singen und sich dabei auf einem Akkordinstrument begleiten.
-
Rhythmus. Rhythmusdiktate können sehr anstrengend sein, wenn man tatsächlich
alles auf einem Ton macht. In Paul Schenks "Schule des Blattsingens" sind
einfache Tonleiterfiguren rhythmisiert, das scheint mir hilfreich. Dann kann man z.B. mit
einem Notenschreibprogramm, das einem die erdachten Takte vorspielt, überprüfen, ob man alles
richtig gemacht hat.
Aktiv: Wenn man sich Rhythmen einfach mal aufschreibt und danach klopft, klatscht oder singt kann man gute Fortschritte machen: erst mal ist man zum Denken gezwungen (Wann ist der Takt eigentlich voll?). - Taktarten. Muss der Diktierende bei Melodie- oder Rhythmusdiktaten die Taktart ansagen? Eigentlich nicht! Man kann sich zuerst eine eigene Meinung bilden und dann überprüfen!
- Musik hören. Man kann immer, wenn man Musik hört zwischendurch mal überlegen "Was ist das eigentlich für ein Takt? Mit welcher Stufe beginnt die Melodie? Komischer Akkord, was kann das denn sein? Auch banale Dinge machen einen nicht dümmer, eher sicherer!
Was versteht man unter dem absoluten Gehör?
Die Frage beantwortet man, indem man den Wortsinn von "absolut" übersetzt: losgelöst. Ein Absoluthörer kann losgelöst von äußeren Bezugspunkten sagen, welchen Ton er hört, wenn man ihm etwas vorspielt. Er braucht viele Dinge nicht zu lernen, weil er sie einfach kann, und dadurch läuft er Gefahr Dinge nicht zu verstehen, die Relativhörer sich erarbeiten.
Man schlägt ein zweigestrichenes a auf dem Klavier an, und der Absoluthörer erkennt direkt, dass es ein a'' ist. Der Mensch mit relativem Gehör sagt erst mal gar nichts. Diesem muss man erst einen Ton als Bezug geben. Man spielt also ein c', sagt ihm, dass er gerade ein c' hört, und dann spielt man das a''. Wenn er in der Lage ist, eine große Sexte über eine Oktave zu identifizieren, kann er dann sagen, dass der gefragte Ton ein a'' ist. Er erkennt den Ton relativ zu einem Bezugspunkt.
Ob es ein großer Vorteil ist, die Begabung des absoluten Gehörs zu haben, sei mal dahingestellt.
Leute mit relativem Gehör sind gezwungen zu denken, Absoluthörer wissen einfach. Sie wissen zum
Beispiel, dass sie ein
as hören, oder ist es etwa doch ein gis?
So kommt es leicht zu Fehlern, wenn sie nicht lernen, wie ein "normaler" Lehrling der
Musik Sinnzusammenhänge zu erkennen und zu benennen. Die drei Töne
es - ges - b wird ein Mensch mit relativem Gehör sicher so benennen,
weil er einen Mollakkord erkennt. Ein Absoluthörer wird möglicherweise sagen "ich höre
es - fis - b ", weil die Note
fis geläufiger ist als ges, und weil er die Töne
eben absolut erkennt, also der Zusammenhang "Molldreiklang" für ihn zum Erkennen nicht
notwendig ist.
Der verminderte Septakkord cis - e - g - b kann auch cis - e - g - ais heißen, aber es gibt Situationen, wo nur eins richtig ist. Löst der Vierklang sich in d - f - a auf, wäre die Variante mit dem ais einfach falsch, denn die muss sich in h - d - fis - h auflösen (Auflösung in Durdreiklänge ist natürlich möglich). Hier muss ein Absoluthörer genauso wie ein "Normalo" über den Zusammenhang nachdenken, auch wenn er sofort erkannt hat, dass er die Töne des - fes - ases - b hört...