Blattspiel auf der Gitarre
Auf der Gitarre vom Blatt zu spielen stellt Anfänger wie Fortgeschrittene vor besondere Probleme. Aber bevor wir uns selbst bedauern, uns über uns wundern oder vielleicht auch ein bisschen kritisch beäugen, würdigen wir erst mal die Fähigkeiten der anderen:
Zweifellos leisten Orchestermusiker auf ihren Instrumenten Großartiges! Was Violinisten so vom Blatt fetzen, mit Lagenwechseln, beeindruckend sauber und in welcher Geschwindigkeit, das ist deprimierend für unsereinen. Gute Saxophonisten spielen in der Bigband komplexe Rhythmen mit einer Sicherheit, die den Klassiker vor Neid grün werden lässt. Cellisten wechseln munter zwischen Bassschlüssel, C-Schlüsseln auf diversen Linien und zur Not auch noch oktaviertem oder einfachen Violinschlüssel hin und her, nur auf dem Klavier ist Blattspiel ja sowas von einfach... na ja, je nach Dichte des Notenhagels. Bei schwierigen Klavierstücken ist das Papier schon mal ganz schön schwarz...
Räumliche Anordnung
Trotzdem: wenn man auf Tasteninstrumenten auch noch vollstimmiger als auf der armen kleinen Gitarre spielt - man kann sich immer und immer darauf verlassen, dass ein c links vom nächst höheren g liegt. Mit welchen Fingern man eine Terz greift, hängt wie bei der Gitarre sehr von der Umgebung ab (Beim Klavier gibt es ja auch noch Daumenuntersatz und Übergreifen der Hände zur allgemeinen Verunsicherung.), aber die räumliche Ordnung der Töne, also was rechts und was links ist, ist sicherer als die politische Ordnung im Bundestag!
Nicht so auf der Gitarre! Wenn ich die Quinte c - g spiele, kann ich das c auf der h-Saite und das g auf der e-Saite spielen. Dann ist das c von mir aus gesehen etwas weiter links oder in tieferer Lage. Spiele ich das c aber im fünften Bund der g-Saite ist es weiter rechts oder in höherer Lage. Und wie ich es tatsächlich mache ist abhängig von dem, was vorher und nachher passiert, also deutlich schwieriger zu kalkulieren als bei einem Tasteninstrument. Dennoch: Respekt für alle Tastenritter, besonders die, die auch noch mit den Füßen Orgelpedale bedienen!
Die Auswendigspieler
Das oben beschriebene strukturelle Problem der Gitarre, und überhaupt ihre Eigenschaft, die Töne nicht so wohlgeordnet zu präsentieren wie das bei Tasteninstrumenten der Fall ist, wird mit ein Grund dafür sein, dass Gitarristen notorische Auswendigspieler sind und - schlecht vom Blatt lesen können.
Man paukt sich ein Stück ein, und lernt es dabei unversehens auswendig, und zwar oft genug mit dem Körpergedächtnis, das sich auf oft wiederholte Bewegungsabläufe verlässt. Beim Lernen beobachtet man vielfach vor allem seine Greifhand und prägt sich so Griffbilder ein, nicht den Notentext. Welcher Gitarrist denkt schon verschärft darüber nach, wo welche Kadenz ein Stück strukturiert, und wie die Stimmführung verläuft? Mal ganz abgesehen davon, ob man das gut findet oder nicht: Gitarristen sind so. Sie lernen ein Stück, und dann das nächste, und wieder das nächste, und sie lernen eher langsam Noten lesen.
Selbstkritik
Und da sie Einzelkämpfer sind, keine Zeit haben, in einem Ensemble zu spielen (aufgrund des Schulsystems haben die Leute ja kaum noch Zeit zum Unterricht und zum Üben) und nicht gut und sicher genug sind, um andere Instrumentalisten oder Sänger zu begleiten, und weil die Gitarre in der Bigband mit zum Schwierigsten überhaupt gehört, sind wir auch rhythmisch nicht besonders versiert.
Wir spielen schön und verträumt, wir spielen "Rauch auf dem Wasser", zumindest das Gitarrenriff, aber die Fähigkeiten, die die Mitarbeiter in einem Streichquartett, in einem Bläserensemble oder in einem Schulorchester haben sind bei uns wenig ausgeprägt. Gehen wir in den Schulchor, können wir vom Blatt singen? Ach, seien wir mal selbstkritisch: sobald etwas Beweglichkeit außerhalb des geübten Repertoires gefragt ist, ist nicht viel mit uns los. Wer bitte sehr braucht uns und unsere TABs außer uns?!
Ansätze und Ideen
Bevor ich jetzt loslege und gut gemeinte Ratschläge erteile, möchte ich für eine andere Einstellung zum Prima-Vista-Spiel plädieren.
Man denkt ja, dass man nicht unbedingt ein besserer Instrumentalist wird, während man sich relativ gezielt mit der Verbesserung der Blattspielfähigkeit beschäftigt. Vergeudet man nicht sogar Zeit? Man könnte doch statt dessen üben?!
Zeitgewinn
Ja, aber wenn man besser vom Blatt spielen kann, bringt das enorme Vorteile mit sich: jedes neue Stück wird schneller gelernt - Zeitersparnis ist die Wahrheit! Und man schaut genauer hin, bemerkt Fehler früher, hat mehr Erfahrung mit mehr Musik, und wenn man richtig gut ist, hat man auch mehr Spaß, es sei denn, man mag nicht mit anderen zusammen musizieren...
Jedes Erlernen eines Musikstückes, mit dem man dann glänzen kann, basiert auf einer Reihe von Voraussetzungen: dass man weiß, wie das jeweilige Instrument bedient wird ist offenkundig nützlich, ermüdungsfreies Spielen durch eine gute und entspannte Haltung hilft - kurz: wenn man leidlich Gitarre spielen kann bevor man sich an Villa-Lobos' erstes Prelude macht, hat man bessere Chancen!
Komponenten der Musik
Aber im Prinzip ist doch das Stück das Ziel, also die Dartscheibe, oder ist das Stück vielleicht nur der innere Kreis, und man kann die "Tortenstücke" als unterschiedliche Facetten des Lernprozesses sehen? Was gehört denn zu einem Musikstück?
Die Noten transportieren Rhythmen, Melodien, harmonische Zusammenhänge, Themen und Motive, Abschnitte, Sätze, Lautstärke- und Temposchwankungen, und in der tatsächlichen Ausführung entstehen Klangfarben und unterschiedliche Klangqualitäten aufgrund abgespielter Saiten, schlechter Verstärkung und so weiter.
Außerdem verbindet man mit etwas Wissen über den Komponisten, sein soziales Umfeld, seine Stellung in der Musik- oder allgemein Kunstszene seiner Zeit, die Bedeutung eines Werkes innerhalb seiner Gattung... viele Tortenstücke, über die man unterschiedlich gut orientiert sein kann, und die das ZIEL, das Stück an sich einerseits schrumpfen lassen, andererseits genauer definieren, also den Blick darauf schärfen.
Beim Blattspiel sind
viele Einzelfähigkeiten beteiligt: schnelles visuelles Erfassen, Erkennen von
musikalischen, melodischen, harmonischen, motivischen, thematischen und rhythmischen
Zusammenhängen, instinktives Abrufen möglicher Fingersätze, Vorausdenken und Zwischenspeichern,
Einordnen in den Gesamtklang.
Das heißt: man lernt nicht nur besser blattspielen, indem
man dieses selber fleißig übt, sondern auch durch besseres Verständnis der genannten
Zusammenhänge. Wenn man z.B. beim Spiel realisiert, das ein bestimmtes Motiv immer mit der
gleichen Intervallfolge aufwartet, wird man das Stück besser verstehen und besser orientiert
sein.
Das Musizieren allgemein bekommt eine größere Tiefe und Schärfe.
Also - was tun?
Konkrete Vorschläge
Vorbedingungen
Vorbedingung für das Blattspielen ist natürlich eine solide Griffbrettkenntnis. Die Übevorschläge auf meinen Seiten zu den tiefen und den hohen Lagen sind ja recht hausbacken, aber vielleicht doch nützlich:
- Stammtonreihe vorwärts und rückwärts lernen
- sich die Lage der Töne der nächst höheren und nächst tieferen Saite klarmachen (5., 7. und 12. Bund)
- sich von einem Freund abfragen lassen oder mit Würfeln arbeiten
- Aufgaben wie "Finde diesen Ton an möglichst vielen Stellen auf dem Griffbrett", "Finde dieses Intervall..." etc. machen
- über das Verhältnis von Intervallen und Tönen auf dem Griffbrett meditieren
- Tonleitern auf einer Saite oder über mehrere Lagen spielen.
Einfach nachdenken: Wenn die Töne f - g auf der e-Saite in Bund 1 und 3, und auf der h-Saite in Bund 6 und 8 sind, was heißt das dann für g - a ? Und wo liegt eigentlich f - g auf der g-Saite? Auf den Basssaiten? Immer wieder innehalten beim Üben und nachdenken "Was spiele ich da eigentlich gerade? Kann man das auch in der Lage spielen?"
Immer nur Stücke üben
Halt! Das heilige Üben, lang und breit diskutiert auf anderen Seiten, darf natürlich nicht angetastet werden?! Doch, gerade das "Üben auf dem geradesten Weg" nach dem Motto "Ich will jetzt nur dieses Stück lernen, und wie der Lernprozess mich selbst verändert interessiert mich nicht die Bohne" ist ja die Ursache, die uns Gitarristen so fremdeln lässt angesichts der Noten!
Beim Lernen eines Stückes ist es aber doch gut, abschnittweise zu arbeiten, weil das Gehirn sich
nicht so viel auf einmal merken kann?
Ja, aber man sollte den Gegenpol nicht außer Acht lassen: das Durchspielen eines noch
nicht gekonnten Stückes. Dabei gewinnt man Überblick und übt blattspielen, wenn auch nicht
wirklich effektiv, solange es um Stücke geht, die für den Spieler den gerade erreichbaren
Schwierigkeitsgrad repräsentieren.
Wenn man gerade nach einem bestimmten Konzept, zum Beispiel "rückwärts üben" arbeitet, sieht man den Notentext ja auch auf andere Art und Weise an.
Was kann man spielen?
Es ist natürlich ungemein interessant, die Werke für Violine solo von J.S. Bach auf der Gitarre
mal durchzuspielen, aber zum Blattspieltraining ist das nicht das ideale Material!
Leichte Stücke, gerne mehrere Stufen unter dem, was man sonst im Unterricht verfrühstückt
sind das Richtige.
- Hefte für Anfänger, auch Sachen, die man vor längerer Zeit gespielt hat
- natürlich Gitarrenduos! Davon gibt es Unmengen in allen Schwierigkeitsgraden.
- wenn es möglich ist, sollte man einem Gitarrenensemble beitreten. Als Novize spielt man Mittelstimmen (da muss man nur Zählen können), die Fortgeschrittenen sind für den Bass (Verantwortung! Hilfslinien!) oder die hohen Lagen zuständig.
- Noten für andere Instrumente: Stücke für Sopranflöte gehen selten über das hohe a hinaus, Altflötennoten sind gut, wenn man sich bis Bund zwölf quälen will.
- einfache Stücke für Violine sind auch nicht schlecht - man staunt, wie ungünstig manche Stellen liegen, die für das Originalinstrument total bequem sind!
- Liederbücher - am besten mit ausgeschriebenen Begleitungen.
Wohl dem, der eine Musikbibliothek in der Nähe hat!
Wie soll man spielen?
Na klar: langsam! Langsam!
- Spiele so langsam, dass du immer etwas vorauslesen und denken kannst !
- Versuche immer zu zählen!
- Versuche nie anzuhalten - lasse lieber ein paar Noten weg!
- Schaue auf die Noten und zwischendurch in die Luft oder zum Mitmusiker, nicht auf das Griffbrett!
- Untersuche zu Beginn das Stück kurz auf auffällige Stellen, vertrackte Vorzeichen, bösartige Akkorde und Rhythmen und
- Etabliere vorm Anfangen ein machbares Tempo. Zähle gründlich (zwei Takte) vor!
Voraus lesen
Versuche, immer einen Takt voraus zu lesen (Je nach Taktart darf man auch etwas bescheidener
sein.). Vielleicht hilft die Übung, einen Takt anzuschauen, dann die Augen zu schließen oder an
die Decke zu schielen und dabei den Takt zu spielen. Dann wieder einen Takt anschauen u.s.w.
Man muss sich zu diesem Vorauslesen zwingen, und dazu braucht man eben ein
langsames
Spieltempo, aber das ist ein ziemlich wichtiger Aspekt: Natürlich gilt bei der Verbesserung des
Blattspiels "viel hilft viel", aber auch hier bringt die Qualität den Fortschritt!
Man
sollte versuchen, beim Spielen zu verstehen, was man gerade spielt. Ein kleines barockes Menuet
ist eine Sache, eine Fantasie von Milan etwas ganz anderes: obwohl man es da mit einfach
scheinenden Notenwerten zu tun hat, ist es aufgrund des Charakters der Musik viel schwieriger,
nicht abzudriften und nur noch Töne zu spielen.
Ensemblespiel
Aber wir Gitarristen haben es auch nicht leicht: jeder junge Geiger, der einigermassen sauber
und im Takt spielen kann, landet in einem Streicherkreis oder Orchesterchen und spielt dort
tonnenweise Noten, die einfacher sind als die Stücke, die er sonst übt. Das Zählen gewöhnt man
sich dabei an, wenn man heraus kommt steigt man wieder ein. Der Pultnachbar spielt ja weiter -
das ist ein Umfeld, in dem wir in der Regel nicht aufwachsen.
Da hilft nur: selbst die
Initiative ergreifen. Die Bibliothek entern, Duopartner und Ensemble suchen, neugierig sein,
viel lesen.
Übungen
Lesetraining / Blattspielübungen
Ein paar kleine Trainingseinheiten sind als PDFs hinter den folgenden Links verborgen.
Diese Blattspielübungen habe ich 2024 renoviert, aber noch immer gilt: der Übungseffekt dürfte deutlich höher sein, wenn man beim Spielen laut die Notennamen sagt. Weiterhin kann man diese Zeilen auch rückwärts spielen, taktweise rückwärts, oder senkrecht, also in jeder Zeile den ersten Takt, dann die zweiten Takte etc. - dann hat man mehr Material!
Lesetraining 1 beginnt mit Abschnitt 1 "Einzelne Saiten und Gruppen" mit einfachen Wiederholungen nach dem Motto "wie ging noch mal die Note". Dabei gibt es einerseits durchgehende Viertelnoten, sodass man immer gezwungen ist, auf die nächste Note zu reagieren, andererseits Zeilen, in denen im Takt eine Halbe und dann zwei Viertel stehen, damit man Gelegenheit hat, visuell einen ganzen Takt zu erfassen.
Zunächst wird jede Saite einzeln vorgestellt, dann folgen Noten auf Gruppen von Saiten. Bei der
g-Saite wird auch das gegriffene
h im 4. Bund genutzt.
Auf Seite 5 beginnt der
2. Abschnitt "Versetzungszeichen"; ab Seite 6 sind die Beispiele in Dreiklängen
und Intervallen organisiert, sodass man nebenbei überlegen kann, was für eine Terz man gerade
spielt.
Auf Seite 8 beginnt Teil 3 "latente Zweistimmigkeit", das heißt
die Zeilen sind immer noch einstimmig notiert, aber man könnte bestimmte Töne etwas halten, um
angedeutete Zweistimmigkeit hörbar zu machen.
In Lesetraining 2 folgt ab Seite 9 Abschnitt 4 "Zweistimmig". Hier muss man durchgängig zwei Stimmen erfassen. Auf Seite 13 sind diese Übungen im Teil 5 "Akkorde" eben in Dreiklangsbrechungen organisiert.
Auf Seite 14 beginnt ein ganz anderes Thema: Kapitel 6 "Lagenspiel auf Saiten und Saitengruppen" verlangt auf einzelnen Saiten und dann auch auf zwei oder drei Saiten Töne in den oberen Lagen zu lesen. Es gibt im Wechsel Übungen, die nur bis zur 5. Lage gehen und solche, bei denen man die Töne bis zum 12. Bund kennen darf.
Diese Übungen gehen bis zur Seite 19, bevor in Lesetraining 3 auf
Seite 20 der Abschnitt 7 "Lagenwechsel zweistimmig" beginnt, und schließlich
habe ich in Teil 8 "Modulationen" ab Seite 23 versucht, noch etwas mehr
Verwirrung mit Vorzeichenwechseln zu stiften.
Der Abschnitt umfasst dann auch
Lesetraining 4, mit Modulationen in Tonarten mit vielen Vorzeichen,
sodass Barrégriffe und Lagenwechsel häufiger vorkommen. Nichts ist rhythmisch besonders
schwierig, es sind einfach nur viele Verrenkungen für Hirn und Hand im zweistimmigen Bereich.
Viel Spaß!
Material zum Blattspielen: Folk-Stücke
Hier gibt es als Material zum Üben zwei PDFs mit Stücken, die ich vor längerer Zeit aus einem Buch für Folk-Fiddle abgeschrieben, für zwei Blockflöten bearbeitet und hier für zwei Gitarren umgebaut habe.