Der Gegenklang
Bis jetzt bewegen wir uns immer noch so gut wie nur in einer Tonart, wenn auch die Dominante in Moll von "weiter im Kreuzbereich des Quintenzirkels" kommt. Hier möchte ich das Konzept mit den Hauptfunktionen und ihren Parallelen um den Begriff "Gegenklang" erweitern.
Die
Parallele eines Hauptklanges steht in Dur immer auf der kleinen Terz unterhalb,
in Moll auf der kleinen Terz oberhalb dieses Dreiklanges.
Der
Gegenklang liegt der Parallele in der Tonleiter gegenüber!
Eine leitereigene Terz unter c findet sich das
a, der Grundton der Parallele a-c-e. Gegenüber,
also eine leitereigene Terz über C findet sich das e, Grundton
des Gegenklanges e-g-h. Die Parallele ist immer eine kleine Terz
entfernt, der Gegenklang hingegen eine große Terz.
Das Ganze funktioniert genauso in Moll; hier ist die Parallele eine kleine Terz über dem Bezugsklang, der Gegenklang eine große Terz unter dem Bezugsklang zu finden.
Die Grafik für die Funktionen Dominante und Subdominante sähe entsprechend aus. Um die Verwirrung zu fördern, eventuell auch nur die Diskussion anzuheizen, biete ich hier zwei Grafiken zu den Akkorden in den Tonleitern an:
Gegenklänge in Dur
Du siehst oben die C-Dur-Tonleiter mit Akkordbuchstaben, Funktionsbezeichnungen, und den Gegenklängen rot umrahmt in der "dritten Reihe". Den Dominantgegenklang "Dg" habe ich eingeklammert, weil der H-Moll-Dreiklang nun wirklich nicht mehr nach C-Dur gehört. Nicht nur enthält er ein Kreuz, sondern als erstes würde man ihn wohl als Parallele der Doppeldominante bezeichnen. Das ist mir für den engeren C-Dur-Kreis nun doch etwas weit hergeholt!
Gegenklänge in Moll
Hier ist oben entsprechend die A-Moll-Tonleiter zu sehen, wieder mit Akkordbuchstaben und Funktionsbezeichnungen. Eingeklammert ist in diesem Fall der B-Dur-Akkord. Im Prinzip ist er als sG, als Subdominantgegenklang zu deuten, wegen des ♭ aber doch recht fremd in der Tonart. Allerdings spielt er in Gestalt des "Neapolitaners" doch eine wichtige Rolle in der Mollkadenz...
Ebenfalls eingeklammert ist der verminderte Dreiklang auf der zweiten Stufe. Er ist natürlich immer noch der verkürzte Dominantseptakkord zur Tonikaparallele (G-h-d-f), oder als Quinte, Septime und kleine None eines Dominantseptnonakkordes ohne Grundton und Terz (E-gis-h-d-f) zur Tonika A-Moll zu deuten, aber ich lasse ihn hier mal in der Klammer.
Beide Notenbeispiele sind ziemlich verwirrend, und deshalb fragen wir, bevor ich eine Diskussion über Qualität und Grenzen der Analyse anstoße erst mal ganz entspannt:
Wann braucht man den Gegenklang?
Wozu braucht man den Begriff, sorgt er nicht nur für Verwirrung? Wir hatten doch gesagt, der A-Moll-Dreiklang sei in C-Dur als Tonikaparallele Tp zu bezeichnen, aber offensichtlich kann man ihn auch Subdominantgegenklang Sg nennen! Wann nennt man ihn wie?
Kadenzen mit Trugschluss
Das klassische Beispiel für die korrekte Bezeichnung eines Dreiklanges als Gegenklang ist eine Trugschlusskadenz. Hier folgt auf die Dominante anders als in der "normalen" Kadenz nicht die Tonika, sondern jeweils der Klang, der eine Stufe über der Dominante steht. Das ist in Dur die Tonikaparallele, in Moll der Tonikagegenklang. In jedem Fall wird man um die echte Tonika betrogen.
Im Notenbeispiel unten folgt in der Kadenz in C - Dur auf die Dominate G-Dur ein A-Moll-Akkord. Da er an Stelle der Tonika kommt, heißt er Tonikaparallele (nicht Subdominantgegenklang), und die Kadenz ist eine Trugschlusskadenz. In der A-Moll-Kadenz folgt auf die Dominante E-Dur F-Dur. Da F-Dur an Stelle der Tonika steht, bezeichnet man den Dreiklang als Tonikagegenklang, nicht als Subdominantparallele. Allgemein könnte man formulieren: Wenn zum Beispiel F-Dur in A-Moll eher als Vertreter der Tonika zu sehen ist, und nicht subdominantisch, dann bezeichnet man ihn korrekt mit "tG".
Die Stimmführung in den Beispielen erfolgt am Schluss in dieser Form, um Quint- und Oktavparallelen zu vermeiden. Die Terz des Zielklanges (c in C-Dur, a in A-Moll), die dem Grundton der eigentlich erwarteten Tonika entspricht, wird dabei verdoppelt.
Beim Trugschluss in Terzlage hat man auf dem Tasteninstrument am Ende nur einen dreistimmigen Akkord - das wäre natürlich bei einem Chor- oder Instrumentalsatz anders.
In der Quintlage erhält man wieder einen Schlussakkord mit nur drei Tönen, es sei denn, man lässt den Leitton der Dominante "abspringen" in den Grundton des Zielklanges, hier angedeutet durch eine kleine Note und den gestrichelten Bogen. Im Hörbeispiel ist diese Variante nicht wiedergegeben.
Verschiedene Möglichkeiten
Ein Dreiklang kann also mal als Parallele, mal als Gegenklang bezeichnet werden. Wenn einem die Erklärung einleuchtet, kann man daraus umgekehrt schließen: die harmonische Analyse eines Stückes kann nicht einfach nur richtig oder falsch sein, sie kann richtiger sein, oder den Sinn des Beschriebenen besser erfassen, oder eben nicht. Sie gibt immer eine Meinung wieder, und sie kann unzulängliche Mittel wählen. Mit den "weiter hergeholten" Akkorden ist das so eine Sache: man muss immer überlegen, ob man den H-Moll-Akkord in C-Dur als Dominantgegenklang bezeichnet, oder ob man nicht eine Modulation annimmt, und das exotische H-Moll eher eine banale Tonikaparallele (in D-Dur) ist.
Erweiterte Kadenzen
Nachdem du jetzt etwas über Kadenzen und ihre Bestandteile, die Hauptfunktionen sowie Parallele
und Gegenklang weißt, folgen hier noch einige Beispiele zum Üben. So etwas wie
"die erweiterte Kadenz" gibt es nicht - es sind nur Vorschläge von mir, die es
ermöglichen sollen, das theoretische Wissen praktisch zu erproben.
Man braucht dabei mehr
an Konzentration als für die T - S - D - T - Kadenz: Kann man sicher sein, dass eine
Akkordfolge, die in Oktavlage begonnen wunderbar funktioniert in einer anderen Lage nicht
verbotene Parallelen enthalten wird? Keinesfalls!
Dur
In dieser erweiterten Durkadenz (ein Beispiel für viele Möglichkeiten) folgt auf die Tonika deren Parallele, dann die Subdominante, die Subdominantparallele, der Dominantquartsextvorhalt vor der Dominante und schließlich die Tonika. Die Basslinie habe ich mit Achteln aufgefüllt, die man auch weglassen kann; bei der Dominante könnte man noch einen Oktavsprung in Vierteln einfügen.
In der Quintlage ist ein Akkord verändert: aus der Subdominantparallele am Ende des ersten Taktes habe ich eine Sp56 gemacht, dem Akkord also eine sixte ajoutée spendiert (durch den schwarzen Rahmen gekennzeichnet), denn andernfalls entstünde hier eine verbotene Quintparallele (siehe das Bild links). Ganz so einfach, wie bei der "Standardkadenz" kommt man also beim Üben nicht davon!
Moll
Das Beispiel einer
erweiterten Kadenz in Moll ist analog zu dem in Dur aufgebaut, aber die
Akkordfolge ist doch anders, und durchaus komplizierter zu erklären (wie immer in Moll):
Der Tonika folgt die Subdominantparallele oder Tonikagegenklang, dann die Subdominante,
und dann kommt der verminderte Dreiklang auf der zweiten Stufe. Wie ist dieser einzuordnen?
Nach diesem Erklärungsbedarf hervorrufenden verminderten Dreiklang folgt auch hier ein Dominantquartsextvorhalt vor der Dominante und schließlich die Tonika. Wie in Dur ist die Basslinie mit Achteln aufgefüllt.
Und wie beim Beispiel in Dur, gibt es auch in Moll eine Quintparallele in der Quintlage. Die
verminderte Quinte
h-f wird in die reine Quinte a-e geführt, und
man weiß ja
"Rein-vermindert schreib' ungehindert - vermindert-rein - das lass' sein!"... Wenn man die Stelle spielt, merkt man: das Ohr hört tatsächlich Parallelen, obwohl die
erste Quinte keine reine ist.
Also habe ich an dieser Stelle den verminderten Dreiklang
zum Vierklang erweitert - so wird auch die "quasi-dominantische" Funktion zur Dominante E-Dur am
deutlichsten.
Improvisationsübung
Man muss sich diesem Thema auch nicht nur "rein akademisch" nähern - warum nicht an so einer erweiterten Kadenz ein bisschen improvisieren üben? So eine Kadenz ist ein extrem kleines Biotop, in dem sich gut schwimmen üben lässt: Man entferne die Durchgangsnoten im Bass, beginne in einer Lage und erfinde eine Melodie, zum Beispiel:
Dabei erwischt man vielleicht die eine oder andere Quintparallele, spielt in Tonarten mit vielen Vorzeichen auch mal herzerfrischend falsche Töne - aber man tut niemandem weh und geht die Sache etwas anders an!
Andere Beispiele
Es steht natürlich jedem frei, die beiden obigen Beispiele für erweiterte Kadenzen nicht so toll zu finden. Sie sind ein bisschen stupide aufgebaut, was den Vorteil hat, dass man länger den Überblick behält, vielleicht auch noch in Des-Dur...
Hier ein Beispiel in Dur mit mehr Finessen und Fallstricken:
Nach der Tonika in Oktavlage folgt eine S56, eine Subdominante mit sixte ajoutée, darauf die Dominante, und dann ein Trugschluss zur Tonikaparallele A-Moll. Um die Mollparallelen alle unterzubringen lasse ich E-Moll und D-Moll folgen, und ende mit Dominantquartsextvorhalt und - unvollständigem! - Dominantseptakkord in der vollständigen Tonika.
Das sieht ja ganz nett aus, aber hoppla! - in den anderen Lagen ergeben sich überraschende Dinge! Wenn bei der S56 das d oben liegt, umfassen die drei Töne in der rechten Hand nicht mehr eine kleine Septime, sondern nur eine Quarte. Das d bleibt dann zur Dominante liegen, und dann sieht der Zielklang des Trugschlusses ganz komisch aus, und wie bitte bleibt man dann in der Terzlage? Ausprobieren!
Das Beispiel in Moll ist ähnlich verwirrend:
Wieder analog zum Dur-Beispiel aufgebaut folgen auf die Tonika die s56, danach die Dominante und der Trugschluss zum Tonikagegenklang. Danach kommt die Tonikaparallele und dann - hier wenig schlüssig angesteuert, aber ich will nun mal alle sechs Haupt- und Nebenfunktionen dabei haben - deren Dominante G-Dur, schließlich der Dominantquartsextvorhalt und wieder der unvollständige D7, der in die vollständige Tonika führt.
Garantiert wird man in den anderen Lagen Spaß mit dem s56, dem Trugschluss und Quintparallelen haben! Solche praktische Übungen sind halt nicht einfach, und man sollte sie als "experimentelles Lernen" betrachten!
Übung: Erweiterte Kadenzen für Gitarre
Übung:
Die erweiterten Kadenzen in C-Dur solltest du erst mal auf der Gitarre durchspielen und dann
in den angezeigten Tonarten aufschreiben und spielen. Selbstverständlich kann man die Noten
auch im Violin/Bassschlüsselsystem aufschreiben und auf einem Tasteninstrument spielen.
Hier findest du ein
allgemeines Kapitel über
erweiterte Kadenzen.
Die Beispiele enthalten vollständige und unvollständige Dominantseptakkorde. In Takt 3 ist der D7 unvollständig (die Quinte d fehlt) und löst sich in eine vollständige Tonika (Takt 4) auf: der Grundton im Bass geht zum Grundton, die Septime im Tenor wird zur Terz der Tonika geführt, der Grundton im Alt bleibt liegen und wird zur Quinte des Zielklanges, und der Leitton im Sopran wird selbstverständlich in den Grundton aufgelöst .
Im Beispiel nach dem Doppelstrich steht zunächst eine vollständige Zwischendominante (D7,
2. Akkord in Takt 7), die sich in Takt 8 in eine vierstimmige Dominante (G-Dur) ohne Quinte
auflöst. Der Grundton im Bass geht wieder zum Grundton, die Quinte im Tenor geht abwärts zum
Grundton, die Septime (Gegenleitton) im Alt wird nach unten in die Terz des Zielklanges
geführt, und weil der Leitton fis nach oben in den Grundton aufgelöst
werden muss fehlt dem G-dur-Akkord die Quinte
d.
Darauf folgt noch einmal der unvollständige Dominantseptakkord, der sich in die
vollständige Tonika auflöst.
Die Subdominantparallele D-Moll in Takt 2 ist im Beispiel
besonders unspielbar auf der Gitarre; das ist in anderen Tonarten anders.
Übung:
Die folgenden Kadenzen in A-Moll und E-Moll sind genauso gedacht wie die vorigen: erst spielen, dann schreiben.
Besonderheiten: In der A-Moll-Kadenz ist die erste Zwischendominante ein vollständiger Dominantseptakkord, der sich entsprechend in einen unvollständigen Zielklang auflöst. Die zweite ist unvollständig, also gibt es eine tP mit Quinte.
In der zweiten Akkordfolge steht am Anfang des zweiten Taktes wieder ein vollständiger D7 als Zwischendominante. Hier habe ich vollständig aufgelöst, indem der Leitton im Alt zur Quinte des Zielklanges "abspringt" - in Mittelstimmen eine gängige Praxis.
Nach diesen Exkursen in die Praxis kehren wir zurück zur Theorie, und erweitern das harmonische Material um nicht mehr unmittelbar zur Tonart gehörende Akkorde.