Enharmonische Intervalle
Wenn man die vorigen Kapitel, besonders über die Intervallarten und die übermäßigen und verminderten Abwandlungen gelesen hat, hat man sich bestimmt schon gewundert: Viele Intervalle gleicher "technischer" Größe können verschieden heißen.
Eine große Sekunde hat zwei Halbtonschritte, eine verminderte Terz anscheinend auch. Kann das angehen, kann es eine musikalische Situation geben, in der tatsächlich in den Noten c-eses richtiger wäre als c-d?
Verhalten wir uns erstmal wie sachliche Wissenschaftler: auch wenn ein scheinbar äußerst merkwürdiges Intervall so gut wie nie oder tatsächlich nie im wirklichen Leben vorkommt - solange es denkbar und die sinnvolle Ergänzung eines logischen Systems ist, kann man es doch existieren lassen?
Eine verminderte Terz, selbst wenn sie nirgendwo vorkommt, ist doch die logische Verkleinerung der kleinen Terz, und sie tut doch niemandem weh!
Angesichts der Tatsache, dass zum Beispiel eine verminderte Septime, die entsprechende Verkleinerung der kleinen Septime, nicht nur existiert, sondern sehr häufig und wichtig ist, kann man doch die arme verminderte Terz nicht verbieten wollen?
Also fordere ich auch außerhalb solcher Gruppen wie Komponisten, Musikschullehrer oder Musikstudenten absoluten Artenschutz für alle verminderten, doppelt verminderten und übermäßigen Intervalle aus Gründen der Logik des Systems! Logik, die nicht irgendwo durch Verbote unterbunden wird ist etwas sehr Charmantes!
Was es nicht gibt
Was es allerdings nicht gibt, sind
"Zick-Zack-Intervalle": es gibt keine
"verminderte große Septime" oder dergleichen. Man kann nicht ein großes
Intervall vermindern, oder ein kleines übermäßig machen - die "ganz große" Version
folgt immer auf die "große", und die "ganz kleine" auf die
kleine! Es gibt ja auch kein XXL-Shirt in S...
Das Wort
"vermindert" bedeutet bei Intervallen dem Sinn nach, dass die verkleinerte Fassung
eines reinen oder kleinen Intervalls gemeint ist.
Enharmonische Verwandlung oder Verwechslung
Wenn man im Duden nachschaut, was "enharmonisch" bedeutet, bekommt man eine relativ wertfreie Definition. Tatsächlich kann man den Begriff mit entsprechenden Zusätzen fast wie ein Schimpfwort benutzen!
Eine "enharmonische Verwandlung" meint, dass ein Komponist oder improvisierender Musiker eine Note absichtlich umdeutet, wodurch sie oft zu einem Leit- oder Gegenleitton wird, der dann irgendwo hinführt. Oder durch Veränderung des harmonischen Umfeldes wird die Note so umgedeutet, dass sie anders heißen MUSS. Dadurch führt sie in eine neue Richtung, zum Beispiel in einer Modulation.
"Enharmonische Verwechslung" jedoch klingt nach "Hier hat sich wohl jemand versehen und etwas falsch notiert!" Das geliebte Internet ist hier endlos tolerant: wenn man nach Akkorden für einen Song sucht, der vielleicht in einer Tonart mit vielen Kreuzen steht, kann es passieren, dass ein Teil der Gitarrengriffe mit ♭s notiert wird - korrekte Grammatik ist doch wohl nicht wichtig?!
Beispiel für unklare Akkorde
Hier habe ich ein Beispiel konstruiert, das man so ähnlich durchaus in Heften mit Gitarrennoten finden kann. Vor dem doppelten Taktstrich habe ich einige Töne enharmonisch verwechselt.
Im ersten Takt sind der erste und der dritte Akkord von der Struktur her gleich aufgebaut:
Grundton, große Terz, kleine Septime, große None - so etwas nennt man Septnonakkorde. Beim
zweiten Akkord steht aber (rot umkreist) statt der kleinen Septime eine übermäßige Sexte. Das
machen Leute, weil sie der Meinung sind, dass
cis häufiger vorkommt als des und deshalb
leichter zu lesen sei...
Tatsächlich sieht der zweite Akkord dadurch aber ganz anders aus,
als die ihn umgebenden Kollegen, sodass man überhaupt nicht sieht, dass es sich schlicht um eine
chromatische Rückung handelt.
Die Akkorde von Takt 1 und 3 als Griffe. Die Griffbilder sind gleich, während die Noten in Takt 1 unterschiedlich gesetzt sind.
Nach dem Doppelstrich ist das cis zum des korrigiert - jetzt ist es offenkundig: drei D79 hintereinander! Man schiebt einfach einen Griff von der sechsten in die fünfte und dann in die vierte Lage.
Auf der Klaviertastatur ist die Sache nicht so offensichtlich. Man kann die Töne auf den schwarzen Tasten auch falsch benennen, aber hilft das jemandem?
Das gleiche Spielchen habe ich im zweiten Takt inszeniert: hier erkennt man den ersten Dreiklang
als
A7 (ohne
Grundton) als Sextakkord. Im
zweiten Akkord ist das gis (übermäßige Sekunde über
f) irgendwie komisch, und im dritten will die verminderte Septe
es nicht wirklich zum
H7 ohne Grundton passen.
Im letzten Takt
habe ich die enharmonisch verwechselten Noten (grün eingekreist) entsprechend verändert - das
kann man lesen! Und man sieht sofort: es wird wieder ein Akkord chromatisch verschoben:
A7 nach
B7 nach
H7.
Wenn ich Notenhefte vor mir habe, in denen solche Akkordfolgen ziemlich konsequent inkonsequent geschrieben werden frage ich mich, ob die Verlage keine Lektoren haben, die einen chromatisch verschobenen Septakkord korrekt darstellen wollen, und was man in Sachen Harmonielehre aus solchen Noten lernen soll. Jedenfalls gefällt es mir nicht.
Beispiele für enharmonische Intervalle
Im Folgenden möchte ich konkrete Beispiele für einige verbreitete enharmonische Intervalle
anbieten.
Im Bild rechts habe ich versucht, die "Schnittmenge" zwischen Terzen und Quarten
darzustellen um zu verdeutlichen, wie die "Überschneidungen" zustande kommen.
In der oberen Notenzeile siehst du eine verminderte, eine reine und eine übermäßige Quarte auf c. Unten stehen eine verminderte, eine kleine, eine große und eine übermäßige Terz auf c. Zwischen den Zeilen steht die genaue Grösse in Ganz- und Halbtonschritten.
Bei den Intervallen im blauen Rahmen ist dieser technische Wert gleich: 2 beziehungsweise 2½ Tonschritte. Trotzdem ist eine verminderte Quarte nicht dasselbe wie eine große Terz, und eine übermäßige Terz ist eben keine Quarte!
Hier kommen die Beispiele, dazu wie immer der Tipp: Wenn du auf "anhören" klickst, "Öffnen in einem neuen Tab" (mit dem Mausrad klicken!) wählen, damit du die Noten verfolgen kannst.
Übermäßige Sekunde - kleine Terz
Die übermäßige Sekunde kommt in der harmonischen Molltonleiter zwischen den Stufen 6 und 7 vor. Im Beispiel rechts führt das gis leittönig zum a, das f geht abwärts zum e.
Um sie ihrem enharmonischen Partnerintervall gegenüber zu stellen, muss man einen Zusammenhang herstellen, in dem moduliert wird:
Hier habe ich zunächst in Terzen Grundton und dritte Stufe von A-Moll umspielt, um dann in Takt 2 das c in his umzudeuten. Dadurch wird der Ton zur siebten Stufe in Cis-Moll; das a darunter ist die Sexte der Tonleiter. Harmonisch ist das Intervall als kleine None und große Terz des kleinen Dominantseptnonakkordes Gis-his-dis-fis-a aufzufassen. Dass hier Wortungetüme auftauchen ist kein Zufall: die enharmonische Umwandlung oder Umdeutung passiert eben, wenn sich wirklich radikal etwas verändert!
Verminderte Terz und übermäßige Sexte
Die verminderte Terz ist in einer Dominante mit tiefalterierter Quinte (hier G-h-des-f) zwischen der großen Terz und der verminderten Quinte denkbar. Das Intervall h-des löst sich in zwei cs auf. Häufiger wird einem aber wohl die Umkehrung, die übermäßige Sexte begegnen, die sich in eine Oktave auflöst.
Verminderte Quarte - große Terz
Die verminderte Quarte ist die enharmonische Entsprechung der großen Terz, des
charakteristischen Intervalls des Tongeschlechts Dur.
Etwas überraschend mag sein, das die enharmonisch verwandelte Frohnatur so ziemlich das
traurigste an Intervall ist, was ein Komponist schreiben kann. Die Melodie des
Liedes "Flow my
tears" von John Dowland,
das jahrzehntelang europaweit bekannt war, dreht sich immer wieder um die verminderte Quarte,
die zwischen der erhöhten siebten Stufe und der Terz der harmonischen Molltonleiter liegt.
Ich habe versucht, ein zwei- und ein einstimmiges Beispiel zu schreiben, die nacheinander vorgespielt werden. Beide Male wird von C-Dur mit der großen Terz c-e nach Cis-Moll über die verminderte Quarte his-e moduliert.
Dass man gerade eine verminderte Quarte gehört hat, merkt man natürlich erst im Nachhinein. Modulationen sind immer vom Überraschungseffekt geprägt.
Übermäßige Quinte - kleine Sexte
Die übermäßige Quinte ist nicht so ungewöhnlich, sie kommt zum Beispiel im übermäßigen Dreiklang vor, und der wird gerne in Modulationen genutzt.
Im drittletzten Takt der Fis-Moll-Fuge aus dem "Wohltemperierten Klavier" (1. Band) von Bach löst sich die übermäßige Quinte d-ais nach d-h auf; das Intervall entsteht hier aufgrund des Kontrapunkts der Fuge.
Im Notenbeispiel unten habe ich die kleine Sexte c-as, die die Mollsubdominante repräsentiert, und die übermäßige Quinte c-gis, die zur Tonikaparallele hinführt einander gegenübergestellt.
Übermäßige Sexte - kleine Septime
Auch die übermäßige Sexte wird häufig in modulierenden Zusammenhängen eingesetzt. Die kleine Septime eines Dominantseptakkordes wird enharmonisch in die übermäßige Sexte eines übermäßigen Quintsextakkordes umgedeutet, und schon geht es in eine andere Tonart. Ich habe hier ein zweistimmiges Beispiel konstruiert:
In Takt zwei stellen die Noten g-f den Dominantseptakkord dar, der dritte Takt beginnt genauso, hier wird die kleine Septime aber in die übermäßige Sexte g-eis umgedeutet, die tiefalterierte Quinte und die große Terz eines Cis-Dur Akkordes, die nach fis-Moll führen.
Übermäßige und verminderte Oktave
Bei der übermäßigen Oktave beispielsweise stutzt sicher so mancher: ist das nicht komisch, an
einer Stelle c und cis gleichzeitig zu haben?
In
Mozarts Klaviersonate KV 576 steht im zweiten Satz in Takt 6 diese Stelle (zweiter Takt der
Grafik): die linke Hand hat e, in der rechten steht
eis', jeweils bei den blauen Pfeilen. Das e wird
mit dem cis zum d geführt (man könnte
argumentieren, dass das e aufwärts zum h geht,
weil die Stelle dreistimmig ist, aber die Begleitung springt insgesamt häufig eine Oktave auf-
oder abwärts), das eis natürlich aufwärts zum
fis' (grüne Pfeile). Da der Leitton zu
fis eis heißt, schreibt Mozart natürlich nicht
f.
Ein Beispiel für die verminderte Oktave findet sich in Takt 19 des gleichen Satzes. Bei den blauen Pfeilen stehen oben h und unten his; das h wird abwärts geführt, in der linken Hand löst sich die übermäßige Sexte d-his beim grünen Pfeil in die Oktave cis-cis' auf. Auch hier schreibt Mozart selbstverständlich nicht ein c' anstelle von his.
Den Überblick behalten...
Besonders in Tonarten mit vielen Vorzeichen ist es nicht immer einfach zu überblicken, welches Intervall man gerade vorliegen hat, ob nicht gerade etwas sehr Spektakuläres passiert. Hier die Takte 11 und 12 aus der Fis-Dur-Fuge aus dem 2. Band, "Wohltemperiertes Klavier":
Das sieht doch einigermaßen schlimm aus! Doppelkreuze vor g und f, selbst der Grundton der Tonart wird also von fis zu fisis erhöht, das muss doch von komischen Intervallen nur so wimmeln! Beim Anhören ahnt man schon: so wild ist es gar nicht!
Tatsächlich wird im ersten Takt "nur" die Zwischendominante Eis7 gespielt, die sich nach Ais-Moll mit nachschlagender kleiner Sexte auflöst. Das "gefährlichste Intervall" ist die übermäßige Quarte dis-gisis auf der zweiten Viertel - so etwas steckt in jedem Dominantseptakkord.
Zur Verdeutlichung hier die Takte nach C-Dur transponiert... der H7 ist immerhin die Zwischendominante zum Tonikagegenklang E-Moll, also harmonisch nicht gerade im Zentrum von C-Dur gelegen, aber in dieser Tonart sieht die Sache doch gleich viel harmloser aus, es sind alles nur Töne der melodischen und der harmonischen E-Moll-Tonleiter...
Was wäre wenn - Abschaffung der Intervallnamen
Aber bitte - man muss doch die Welt verbessern wollen dürfen! Was wäre denn, wenn man die Intervallnamen einfach abschaffen würde? Nichts mehr mit "C-e: 4 Halbtonschritte, große Terz" und "His-e: 4 Halbtonschritte, verminderte Quarte", wir nennen das Ding ab jetzt einfach "Vierer" oder denken uns eine lateinisch klingende Variante aus. Wäre das nicht ein riesiger Fortschritt?
Stelle dir vor, ein Freund empfiehlt dir, ein Buch zu lesen. Du fragst ihn also, was für eine
Art Buch es sei, ein lustiges Buch? Antwort: "Ein Buch." - Vielleicht eine Horrorgeschichte?
"Ein Buch." - Ein Liebesroman? "Ein Buch."
Alle Möglichkeiten, ein Buch näher zu
beschreiben sind abgeschafft. Du musst das Buch lesen, wenn du wissen willst, weshalb dir dein
Freund es so ans Herz gelegt hat.
Ein völlig blödes Beispiel, aber mir fällt nichts besseres ein, um die Verarmung anzudeuten, die
stattfände, wenn die Namen der Intervalle abgeschafft würden. An den Namen, an den verschiedenen
Bezeichnungen hängen semantische Inhalte, die sich über Jahrhunderte angehäuft haben.
Die
große Terz, Grundlage des Tongeschlechts Dur, ist der Inbegriff des Fröhlichen in der Musik,
während die gleich große verminderte Quarte so ziemlich das Schmerzlichste ist, was die tonale
Tonsprache zur Verfügung hat. Die Möglichkeit, diese Unterschiede mit Namen zu kennzeichnen will
man nicht im Ernst abschaffen...
Der Umstand, dass Neulinge sich das bestehende System erst erarbeiten müssen, ist genauso ein Lernprozess wie der, hellblau, dunkelblau, ultramarin- und graublau unterscheiden zu lernen, aber eben durch den Wortteil "blau" zusammenzufassen und von rot oder grün zu trennen.
Da man Musik im Gegensatz zu Farben nicht anfassen kann - der Mensch als "Augentier" berührt die sichtbare Welt quasi mit seinen Augen - ist besonders das Begreifen der Intervalllehre ein guter Grund zu jammern!