Kirchentonarten im Mittelalter
Die sogenannten Kirchentonarten oder Modi sind ein Thema mit vielen Facetten: ursprünglich haben
sie mit den Anfängen unserer Musikkultur zu tun, mit Neumen und grogorianischem Gesang, sind
also ein musikwissenschaftliches Spezialgebiet.
Dann begegnen sie auch dem unschuldigen Gymnasiasten, der sie kennen soll und dafür
benotet wird.
Schließlich feierten sie ein furioses Comeback mit der Entstehung des Cool
Jazz Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts, und sind seitdem in der Jazzdidaktik ein
probates Mittel, um einen Einstieg in die Improvisation zu zeigen.
Beginnen wir chronologisch, streifen wir zunächst die Anfänge im Mittelalter!
Griechische Namen
Über dem Text des "Laudate Pueri" aus dem "Graduale Triplex" sieht man in rot Neumen, eine linienfreie Notenschrift des 10. und 11. Jahrhunderts; darüber in immerhin vier Notenlinien die Quadratnotation. Darüber steht eine weitere Version von Neumen.
Zunächst mal entsprechen ihre Bezeichnungen denen der griechischen Musiktheorie, der Zeitraum ihrer Wichtigkeit erstreckt sich vom frühen Mittelalter bis zur Renaissance.
Ein "Kirchenton" oder "Modus" ist dadurch charakterisiert, dass er einen Umfang von einer Oktave umfasst (was natürlich im Laufe der Zeit durch Ausnahmen aufgeweicht wurde), und dass er bestimmte "wichtigste Töne" hat, vor allem den "Finalis" (Fine heißt Schluss) und den "Reperkussionston" (darin stecken die Silbe "re", die immer etwas mit "wieder" zu tun hat, und trommeln).
Wer katholische lateinische Messen kennt, weiß, dass der Text auf wenigen Melodietönen untergebracht wird. Das Meiste wird auf dem Reperkussionston gesungen, und am Ende kehrt man zum "Finalis" - Nomen est Omen - zurück. Der Finalis entspricht weitgehend unserem Konzept des Grundtones.
Umfang der Skalen
Wurde der Umfang eines Modus dauerhaft unterschritten, wurde zum Beispiel im dorischen Modus
nicht der Umfang
d-d' eingehalten, nahm man eine Skala von
A-a an. Dabei blieb aber der Ton d weiterhin der
Finalis-Ton, und man nannte die Tonleiter "Hypodorisch" (hypo, griechisch, heißt "unter").
Dorisch wäre dabei ein "authentischer" Modus, Hypodorisch ein plagaler - zwei Begriffe,
die der musikalisch leidlich Gebildete mit etwas anderem assoziiert, nämlich mit verschiedenen
Kadenzschlüssen.
Die ursprünglich in Mittelalter und Renaissance benutzten Kirchentonarten waren:
Bedeutung in Mittelalter und Renaissance
Der Zeitraum "Mittelalter" war im Vergleich zu späteren Perioden extrem lang, je nachdem, welche Kriterien man anlegt, kommt man auf 700 bis 1000 Jahre. In dieser Zeit waren die Modi das beherrschende Ordnungskriterium für das benutzte Tonmaterial; Dur und Moll waren nicht benannte Sonderfälle. Da die Entwicklung aber ständig voranschritt, ist die Sache unübersichtlich: spielt sich ein gregorianischer Gesang zwischen d und d' ab, kann er im dorischen oder im hypomixolydischen Modus stehen - was davon zutrifft, hängt von Finalis und Repercussio ab.
Gregorianischer Choral oder generell frühe Kirchenmusik sind definitiv weit entfernt von Bach und Beethoven! Trotzdem wirkt sich die Praxis, in Kirchentönen zu denken, noch bis in Bachs Notationspraxis aus. Besonders häufig kommt bei ihm vor, dass er Stücke "dorisch" notiert.
Luys Milan
In Luys Milans "El Maestro" von 1536 steht vor den Stücken immer, in welchem Kirchenton sie geschrieben sind. Bei dem angefügten Beispiel steht, soweit meine Nichtkenntniss des Altspanischen reicht, etwas von "Mixto" und drittem und viertem Ton, was man wohl den "terminos" und "clausulas" entnehmen kann - wenn man es denn kann! Im Vergleich zu dem Bild mit Neumen und Quadratnotation oben sieht die Tabulatur hier doch schon richtig lesbar aus...
Übertragung der Tabulaturzeile oben.
Meine Seite ist nicht abgelegenen Spezialgebieten gewidmet, und ich denke auch, dass man sich wirkliche Sicherheit in der Beurteilung solcher Fragen kaum unter dem Niveau eines Studiums erwerben kann. Wenden wir uns lieber dem Thema "Modi" in zeitgenössischem Zusammenhang zu!
Kirchentonarten heute
Für die drohende Musikklausur - immer wieder ein schöner "zeitgenössischer Zusammenhang" - sollte man wissen, welche Kirchentonarten es gibt, wie man sie erkennt, und wie man sie transponiert oder in transponierter Form erkennt.
Dabei hängt sicher von Niveau und Zielsetzung des Unterrichts ab, ob man sich eher mit den in Mittelalter und Rennaisance relevanten 8 Kirchentönen, oder mit der "moderneren" Form befasst.
Heutzutage ist das Wissen um Reperkussionston, Finalis, Klauseln und weitere Geheimnisse des gregorianischen Gesanges weitgehend verschüttet. Wer schon mal von Kirchentonarten gehört hat, weiß eher:
- Es gibt sieben Stück; auf jeder weißen Taste des Klaviers beginnt je eine.
- Sie stammen von den alten Griechen, daher haben sie ihre Namen.
- Man teilt sie ein nach "durartig" oder "mollartig", je nachdem, ob die Terz groß oder klein ist.
- Die meisten haben ein charakteristisches Intervall, das sie von Dur oder Moll unterscheidet.
- Es gibt eine, die unserem modernen Dur entspricht: Ionisch.
- Es gibt eine, die dem reinen Moll entspricht: Äolisch. Diese beiden haben kein "besonderes Intervall".
Die "modernen" Modi
In den folgenden Grafiken steht links immer die Kirchentonart, rechts die entsprechende Durtonleiter oder reines Moll.
Die Terz ist rot, wenn sie groß ist, und violett, wenn es sich um eine kleine Terz handelt, die eine "mollige" Tonleiter kennzeichnet. Das kennzeichnende Intervall des Modus ist blau umrahmt.
Rechts sieht man dann in der Tonleiter an derselben Stelle hellblau umrahmt die Note, die die Skala zu einer "normalen" Dur- oder Molltonleiter machen würde.
Analysetipps
Um zu analysieren, welchen Modus man vor sich hat, muss man also zunächst schauen, ob die dritte
Stufe eine kleine oder eine große Terz ist, also die
Frage nach dur- oder mollartig klären. Danach sucht man nach
charakteristischen Tonstufen, die in einer "normalen" Dur- oder Molltonleiter
so nicht vorkämen.
Wenn so ein Intervall vorhanden ist, hat die Skala im Vergleich zu Dur
oder reinem Moll Vorzeichen zu viel oder zu wenig. Daran kann man sie dann
erkennen.
Wenn so etwas nicht auftaucht, hat man Ionisch oder
Äolisch vor sich.
Dies gilt für die "modernen" Kirchentonarten. Wer sich mit ihnen vertraut machen will, sollte unbedingt die folgenden sieben Modi im Vergleich zu den daneben stehenden Tonleitern spielen und singen!
Wenn man zum Beispiel eine Fantasie aus der Renaissance analysieren soll, muss man sich mit "Clausulas" und "Terminos", typischen Melodiewendungen, Schlussbildungen und Kadenzen befassen. Ein Stück im phrygischen Modus kann ja keine übliche Kadenz an Schlüssen haben, da der Dreiklang der 5. Stufe ein verminderter Dreiklang ist. Die Schwierigkeit bei der Analyse eines Stückes ist hier, zu wissen, wie eine typisch lydische, oder wie eine hypolydische Schlussfloskel aussähe.
Die sieben Skalen
Ionisch ist die Bezeichnung für die Skala von
c bis c, die erst viel später vergeben wurde. Sie ist nicht nur
durartig, sondern entspricht schlicht der Durtonleiter. Deshalb ordnet man ihr auch kein
"charakteristisches Intervall" zu.
Ionisch geht genauso wie eine Durtonleiter.
Dorisch heißt der Modus von d bis d. Die dritte
Stufe ist tief, die Skala ist also "mollig", das charakteristische Intervall heißt die
dorische Sexte . An der entsprechenden Stelle in der Tonleiter rechts steht das
♭ - in dieser Form wäre es eine reine
D-Moll-Tonleiter.
Man könnte auch sagen: Dorisch ist wie Moll mit einem ♭ zu wenig oder
einem Kreuz zu viel.
Phrygisch ist auch mollartig und durch die tiefe
phrygische Sekunde gut zu erkennen. Mit einem fis als
zweiter Stufe ist die Tonleiter rechts eine E-Moll-Tonleiter.
Phrygisch ist wie Moll mit einem ♯ zu wenig oder einem
♭ zu viel.
Lydisch ist eine Skala, die man sofort erkennt, denn die
lydische Quarte klingt für unsere Ohren doch sehr merkwürdig. Mit einem
♭ auf der vierten Stufe wird das Ganze eine brave F-Dur-Tonleiter.
Lydisch ist wie Dur, hat aber ein ♭ zu wenig oder ein
♯ zu viel.
Mixolydisch scheint fast normal, bis die kleine
mixolydische Septime erklingt - diese Skala hat keinen Leitton, der zum
Grundton hinführt. Das fis an entsprechender Stelle macht den Modus zu
G-Dur.
Mixolydisch ist wie Dur, aber mit einem ♯ zu wenig oder einem
♭ zu viel.
Äolisch - diese Bezeichnung wurde später erfunden für die Leiter von
a bis a, die unserem reinen Moll entspricht, und die wie Ionisch kein
charakteristisches Inervall hat.
Äolisch geht genauso wie reines Moll.
Lokrisch ist als selbstständige Skala ein Konstrukt späterer Zeiten, das
wohl dem menschlichen Befürfnis entsprang, Systeme "geschlossen" zu halten.
Als
"Hypophrygisch" ist die Skala von H bis h ja auf die Finalis
e bezogen.
"Lokrisch" hat zwei "falsche" Töne, die
kleine Sekunde und die verminderte Quinte. Die Skala ist durch
die kleine Terz mollartig, aber die Tonika ist ein verminderter Dreiklang. Von einer "lokrischen
Sekunde" oder einer "lokrischen Quinte" habe ich allerdings noch nie gehört.
Lokrisch ist komisch. Es ist wie eine Molltonleiter, hat aber zwei Kreuze zuwenig oder zwei
♭s zu viel.
Kirchentonarten auf anderen Tönen aufbauen.
Die unter den Notenbeispielen oben so formatierten kennzeichnenden Intervalle, und die "Geht wie - Beschreibungen" sollen helfen, die Modi auf anderen Tönen zu konstruieren oder wieder zu erkennen. Dafür muss man sich eine ganze Masse Informationen merken, aber man hat ja immer die generelle Erleichterung, dass jede dieser Skalen als "Prototyp" auf den weißen Tasten des Klaviers existiert. Der Prototyp wird mit den Stammtönen gebildet.
Die Alternative zu dieser vergleichenden Methode wäre, zu jeder Kirchentonart die Abfolge der Ganz- und Halbtonschritte auswendig zu lernen. Für Gedächtniskünstler mag das gut sein, für mich funktioniert der Gedankengang "Das sieht aus wie eine Durtonleiter, aber die Septime ist immer klein statt groß..." wesentlich besser.
Die Aussagen "mit einem ♭ zu wenig" oder "mit einem ♯ zu viel" kann man getrost auf die Reihenfolge der Kreuze und ♭s im Quintenzirkel beziehen. "Wie Fis-Moll, aber mit einem Kreuz mehr" heißt also, dass die gesuchte Skala auf fis steht, eine kleine Terz hat, und die Vorzeichen fis, cis, gis und zusätzlich das dis braucht.
Wenn man mehrmals "phrygische Sekunde" vor sich hin murmelt und dabei visualisiert, dass eine Skala von e bis e mit f als zweiter Stufe gemeint ist, kann man das schon in seinem Langzeitgedächtnis verankern.
Übungen
Drei schriftliche Übungen
Aufgabe:
Schreibe die folgenden Modi auf den genannten Grundtönen und markiere die charakteristischen Stufen!
Dorisch auf c, Mixolydisch auf a, Äolisch auf h, Lokrisch auf a, Ionisch auf d, Lydisch auf b und Phrygisch auf fis.
Lydisch auf a, Lokrisch auf c, Äolisch auf gis, Dorisch auf f, Phrygisch auf g, Mixolydisch auf h und Ionisch auf es.
Äolisch auf es, Mixolydisch auf ges, Phrygisch auf h, Ionisch auf cis, Dorisch auf cis, Lydisch auf h und Lokrisch auf f.
Phrygisch auf b, Ionisch auf ges, Mixolydisch auf e, Äolisch auf fis, Lydisch auf as, Lokrisch auf e und Dorisch auf as.
Vorzeichen nennen
Aufgabe
Nenne die Vorzeichen der gefragten Modi! Durch Mauszeigen siehst du die Antwort.
- Lokrisch auf g
- Lydisch auf d
- Dorisch auf g
- Ionisch auf as
- Phrygisch auf cis
- Mixolydisch auf f
- Äolisch auf cis
- Phrygisch auf e
- Lydisch auf cis
- Ionisch auf b
- Lokrisch auf cis
- Äolisch auf as
- Mixolydisch auf b
- Dorisch auf h
- Dorisch auf es
- Lokrisch auf dis
- Lydisch auf e
- Äolisch auf c
- Mixolydisch auf fis
- Ionisch auf des
- Phrygisch auf c
- Ionisch auf h
- Mixolydisch auf des
- Phrygisch auf as
- Dorisch auf b
- Äolisch auf gis
- Lokrisch auf es
- Lydisch auf des
Kirchentonarten nennen
Aufgabe:
Welche Kirchentonart ist das? Zeige mit der Maus auf die Grafik, um die Lösung zu sehen!
Kirchentonarten und Improvisation
Wenn man sich mit den Modi im Zusammenhang mit Jazz beschäftigt, ist man gleich mittendrin in der Musiktheorie des Jazz. Ich möchte das Thema nur kurz anreißen, damit die Bedeutung sichtbar wird.
In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich aus Bebop und Hardbop der "Modale Jazz". Als Meilenstein gilt Miles Davis' Album "Kind of blue" mit dem Eröffnungsstück "So what".
Im Bebop dienen zur Begleitung der Soli komplizierte Akkordfolgen mit Subsitutionen. Man ersetzt zum Beispiel eine Dominante mit dem D7, der auf ihrer verminderten Quinte steht, also etwa G7♭9 mit D♭7♭9. Das macht es erheblich schwieriger, ein sinnvolles Solo zu spielen.
Improvisation über wenige Akkorde
Im modalen Jazz gibt es plötzlich 16taktige Phrasen, die über einen oder zwei Akkorde laufen, und zu denen über modale Skalen improvisiert wird.
Ich habe keine Ahnung, ob die Theoretiker und Lehrer des Jazz erst seit dieser Entwicklung, oder schon vorher die Kirchentonarten oder Modi als Aufhänger genutzt haben, um Einstiege in die Improvisation zu zeigen, aber in vielen Publikationen, die sich mit Jazz befassen, sind die Modi omnipräsent.
Logischerweise kann man bei einem Stück wie "So What", dessen Akkordgerüst aus 16 Takten Dm7, acht Takten E♭m7 und wieder acht Takten Dm7 besteht über zwei verschiedene dorische Skalen improvisieren. Aber die Theorie geht noch weiter:
Improvisationsskalen aus Akkorden ableiten
Hat man in einem Stück eine Passage, in der die Akkorde Am7 (ich habe in beiden Notenbeispielen die None oben angefügt, damit auch für die zweite Tonleiterstufe gesorgt ist) und D7 aufeinander folgen, fügt man die in diesen Akkorden enthaltenen Töne zu einer Skala zusammen. So bekommt man eine dorische Skala auf a:
Im zweiten Beispiel nehme ich den Akkordwechsel G79 - Cmj7 an, und erhalte eine mixolydische Skala auf g. Dabei muss man allerdings aufpassen: mixolydisch hat einen leicht dominantischen Charakter; wenn die Phrase mit Cmj7 endet, muss man sich irgendwann in einer Durskala auf c einrichten.
Überhaupt merkt man beim Improvisieren über Modi bald, dass viel davon abhängt, sich wirklich auf den Grundton der Skala als tonales Zentrum zu zentrieren. Das ist oft gar nicht so einfach, denn unsere Hörgewohnheiten, die natürlich das freie Spielen prägen, machen es nicht leicht, sich auf e als Grundton zu konzentrieren, wenn die zweite Stufe eine kleine (phrygische) Sekunde ist. Man wird ziemlich leicht zu einem anderen dur-moll-tonalen Zentrum hin abgelenkt! Besonders Lokrisch ist kein sicherer Hafen!
Modale Skalen Akkorden zuordnen
Jedenfalls steht in den Lehrbüchern, dass man zu einem Dominantseptakkord gerne mixolydisch zum Improvisieren nehmen kann, oder zu einem halbverminderten Septakkord lokrisch. Man spielt Läufe in bestimmten Skalen zu den passenden Akkorden oder Akkordfolgen - das ist ein Denkansatz, der einem das Leben erstmal ganz schön erleichtern kann.
Demenstprechend werden in Schüler-Bigbands oder Jazzcombos zum Einstieg gerne Titel genommen wie "Cantaloupe Island", "Water Melon Man" oder Hits von Santana wie "Oye como va" oder "Black magic woman" (das von Peter Green geschrieben wurde). Dabei kann man sich mit modalen Improvisationen wunderbar Mut anspielen!