Gitarre und Musiklehre, U. Meyer

Woran erkennt man ein Dur-Stück?

An der Vorzeichnung eines Stückes kann man also erkennen, in welcher Kreuz- oder -Tonart es steht, es sei denn, man wird von einer Kirchentonart ausgetrickst oder es ist komische moderne Musik. Aber wenn man die korrekte Stelle im Quintenzirkel weiß, muss man sich doch noch entscheiden, ob es die entsprechende Dur- oder Molltonart ist.

Konkret heißt das: ein Stück mit zwei Kreuzen könnte in D-Dur oder in H-Moll stehen. Wenn vorne und am Schluss ganz viele Akkorde mit d als Grundton stehen, sollte man trotzdem nicht auf D-Moll kommen, denn das bräuchte 1 als Vorzeichnung. Bei ganz vielen hs ist H-Dur (5 Kreuze) dennoch keine gute Idee.

Man kann es hören

Wer in Gehörbildung so weit ist, dass er beim Lesen von Noten diese "innerlich hören" kann, merkt natürlich sofort, ob das Tongeschlecht Dur oder Moll ist. Wer sich gut mit Intervallen und Akkorden auskennt, kann im folgenden Notenbeispiel schon mal spekulieren: die beiden ersten Takte sehen sehr nach einem C-Dur-Akkord aus, die 4. Note im ersten Takt ist die - große - Terz. Das liest sich und klingt nach Dur. Takt 3 beginnt mit der großen Terz der Subdominante F-Dur.

Man kann es auch sehen

Aber das braucht wirklich einiges an Vorbildung, und ich wollte hier ja Hinweise auf schriftliche Anzeichen geben, die zum Erkennen eines Dur-Stückes beitragen können:

Tipp 1:

Bei einem einfachen Stück im Tongeschlecht Dur ist sich die Tonleiter schon mal selbst genug: es kann durchaus sein, dass überhaupt kein Versetzungszeichen im Stück vorkommt.

Menuet aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach

Als Beispiel hier die Melodie des ersten Teiles eines bekannten Menuetts aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach von JSB - immerhin 16 Takte ohne Versetzungszeichen. Auch die anderen Stimmen - das Stück ist ja eigentlich für Tasten komponiert - enthalten kein oder ♭.

Komplexere Stücke brauchen eher Versetzungszeichen

Je komplizierter ein Musikstück ist, desto mehr unterschiedliche Harmonien kommen vor. Die Parallelen der Hauptfunktionen in Dur sind ja Mollakkorde, und diese werden gerne über Zwischendominanten angesteuert, wodurch im Notentext plötzlich tonartfremde Vorzeichen auftauchen.

In einem Kapitel über "wahrscheinliche Begleitakkorde" habe ich versucht darzustellen, dass mit zunehmender Komplexität eines Stückes mehr und mehr Akkorde zur Begleitung in Frage kommen, und damit natürlich auch mehr tonleiterfremde Töne.

Tipp 2:

Für einfache Stücke in Dur gilt die Faustregel: Es kommen wesentlich weniger tonartfremde Töne vor als bei einem Stück in Moll.

Wenn Gitarrenschüler mit zweistimmigen Stücken beginnen, werden als Basstöne zunächst die leeren Saiten d, A und E genutzt. Wenn die Stücke mit nur zwei Harmonien auskommen, kann man in D-Dur und A-Dur spielen; braucht man Tonika, Dominante und Subdominante, stehen die Stücke halt in A-Dur. Dementsprechend beschweren sich die Schüler gerne "Irgendwie hören die Stücke in letzter Zeit alle mit "a" auf..." Es sind eben einfache Stücke.

Die Doppeldominante

Taucht dann aber das Versetzungszeichen "dis" auf, also die Terz der Doppeldominante als Leitton zur Dominante, um zu einem Halbschluss auf der Harmonie E-Dur zu führen, so wird dies wenig später wieder in ein d zurück verwandelt. Dann wird der Ton wieder als Septime der Dominante benutzt, und man kommt schnell wieder nach Hause, nämlich nach A-Dur.

Menuet aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach 2

Die zweite Hälfte von Bachs Menuett: Hier sieht man die erhöhte vierte Stufe, das fis rot eingefärbt. Das ist der Leitton zur Dominante. Im letzten Takt der ersten Zeile kommt im Bass schon das f mit Auflösungszeichen, damit das Stück wieder in die Haupttonart zurück findet. In der Melodie habe ich diese Note in der zweiten Zeile grün formatiert.

Tipp 3:

Das häufigste Versetzungszeichen in Dur ist das für die erhöhte vierte Stufe; der Leitton zum Grundton der Dominante. Er leitet eine Modulation oder Ausweichung in die Dominanttonart ein.
Kurz darauf erscheint häufig die eben noch erhöhte Note wieder in ihrer "normalen" Version, gerne mit (Erinnerungs-) Auflösungszeichen oder Warnakzidens.

Kreuz oder Auflösungszeichen

Um sein Auge für solche Dinge zu schulen muss man natürlich bedenken, dass die erhöhte vierte Stufe in Kreuz- beziehungsweise -Tonarten unterschiedlich aussieht: was in A-Dur das dis ist, und in C-Dur (noch) das fis, erscheint in -Tonarten wie F-Dur als aufgelöstes ♭, also als h (mit Auflösungszeichen!). Jedenfalls steht vor der Note ein oder .

Menuet aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach 3

Nochmals des Menuettes zweiter Teil, allerdings in Des-Dur: die erhöhte vierte Stufe, das rote g, wird per Auflösungszeichen alteriert. In Zeile zwei ist die normale vierte Stufe ges wieder grün.

Selbstverständlich kommen in längeren Stücken in Dur auch mehr Töne vor, die nicht zur Tonart gehören, also an Versetzungszeichen zu erkennen sind. Jeder erfolgreiche Popsong hat Teile z.B. in der Paralleltonart, und um dahin zu kommen, braucht man Leittöne (erhöht) und Gegenleittöne wie Septimen in Zwischendominanten, die dann an oder zu erkennen sind.

Mozart, Sonata facile, Durchführung

In der Durchführung von Mozarts "leichter" C-Dur-Sonate geht es einigermaßen wild zu. Wer hier die Haupttonart und das Tongeschlecht des Stückes herleiten will hat Probleme!

Aber keine Panik:

Tipp 4:

Wenn im Verlauf eines Stückes viele Versetzungszeichen auftauchen - am Anfang und Ende sollte einigermaßen Ruhe herrschen! Wenn dort der gleiche Durakkord erklingt, am besten am Schluss noch durch eine vollständige Kadenz bestätigt, kann man diesen getrost als Hauptakkord der Tonart des Stückes ansehen.

Mozart, Sonata facile, Anfang

Die ersten Takte (oben) und die vier Schlusstakte der genannten Sonate von Mozart lassen sich eindeutig der Tonart C-Dur zuordnen!

Mozart, Sonata facile, Schluss

Warnung 1: plagale Kadenz

Nicht jede Kadenz folgt dem Schema T - S - D - T! In einer plagalen Kadenz steht an vorletzter Stelle eine Subdominante! Das hieße: vor dem Schlussakkord C-Dur käme nicht G-Dur, sondern F-Dur. Wenn es ganz schlimm kommt, kann der vorletzte Akkord sogar eine Mollsubdominante sein, wie in Carcassi, op. 60, 6:

Carcassi op. 60,6 Schluss

Zu Beginn der letzten Zeile (und schon drei Takte davor) gibt es einen Orgelpunkt, also einen gegen fremde Harmonien gehaltenen Basston auf c, über dem sich die Tonika C-Dur und die Dominante abwechseln. Dabei erscheint die Dominante teilweise mit Septime, teilweise zusätzlich mit tiefalterierter None as, die ebenfalls die (kleine) Terz des F-Moll-Akkordes, der Mollsubdominante ist. Die kommt dann auch am Schluss beim vorletzten Akkord (s) in einem quasi pathetischen Plagalschluss. Trotz des Theaters steht das Stück eigentlich in C-Dur.

Warnung 2: keine Tonika

Es gibt Stücke, die einem nicht den Gefallen tun, mit der Tonika zu beginnen. Manchmal hören sie nicht einmal mit der Tonika auf. Je moderner die Musik, desto mehr Überraschungen! Bi- oder polytonale Stücke zu durchschauen ist nicht mehr so einfach... Ein Beispiel dafür, dass man sich nie sicher sein sollte, bevor man ein Stück wirklich genau analysiert hat, ist ein kleiner Song von Cat Stevens...

Wie merkt man, ob es ein Moll-Stück ist?

Stücke in Moll - auch relativ einfache - erkennt man daran, dass in der Regel mehr Versetzungszeichen auftauchen als in Dur, denn Stücke in reinem Moll sind eher selten. Meist stehen Stücke in harmonisch oder melodisch Moll, oder in unterschiedlichen Mischungen der Tonleitermodelle.

Alle Vögel

"Alle Vögel sind schon da" - im unteren System fliegen sie über Kopf in reinem Moll, was nicht dem gewöhnlichen Verhalten entspricht...

Tipp 1:

Normalerweise tauchen in Stücken in Moll sofort Versetzungszeichen auf, und zwar als erstes die erhöhte siebte Stufe, der Leitton.
Selbst wenn eine Melodie in reinem Moll stehen sollte, benutzt man zum Begleiten doch meist die Dominante als Durakkord, und darin ist als große Terz eben der Leitton enthalten.

Bach, Invention 4

Bachs vierte zweistimmige Invention ist ein Paradebeispiel für harmonisch Moll, weil sich das Thema zwischen der erhöhten siebten Stufe unterhalb und der tiefen sechsten Stufe oberhalb des Grundtones abspielt.

Bach, Invention 4, Schluss

Am Schluss des Stückes gibt es sogar einen Hauch melodisch Moll: in Takt 48 habe ich das h, die erhöhte sechste Stufe orange eingefärbt, die direkt benachbarten s blau.

Wenn am Anfang oder Schluss eines Stückes derartig gehäuft Versetzungszeichen auftauchen, handelt es sich wahrscheinlich um ein Stück in Moll. Das ist natürlich anhand der Akkorde (große oder kleine Terzen?) genauer zu untersuchen!

Bach, Ciaccona D-Moll

In diesen zwei Zeilen aus Bachs Ciaccona D-Moll für Violine solo wimmelt es von erhöhten und erniedrigten siebten, sechsten und dritten Stufen. Wenn so eine Passage in einem Durstück auftaucht, hat das Stück wahrscheinlich gerade in eine Molltonart moduliert. Typisch für Dur ist so etwas nicht!

Warnung 1: dorisch notiert

Es gibt eine ganze Menge Stücke in Moll, die "dorisch" notiert sind. "Dorisch" ist die Kirchentonart, die wie eine Molltonleiter, aber mit erhöhter sechster Stufe geht. Wenn in einem Stück viele Wendungen in melodischem Moll auftauchen, braucht man bei diesen die sechste Stufe nicht zu erhöhen - man hat ja mit einem zu wenig beziehungsweise einem Kreuz zuviel notiert.

Bach, Adagio G-Moll

Die Sonate für Violine solo in G-Moll von J.S. Bach hat ein zu wenig, oder anders ausgedrückt: sie ist "dorisch" notiert. Das Stück ist natürlich nicht durchgehend dorisch; Bach folgt hier lediglich einer Schreibkonvention. Jedenfalls sind die es - Noten mit Versetzungszeichen zu erniedrigen, während die erhöhte sechste Stufe, das e normalerweise nicht aufgelöst werden muss (wenn voher ein es im Takt vorkam natürlich schon).

Merke: ein Stück mit einem muss nicht in F-Dur und auch nicht die D-Moll stehen - es könnte sich um dorisch notiertes G-Moll handeln!

Warnung 2: die picardische Terz

Manche Stücke in Moll scheinen in der gleichnamigen Durtonart zu enden - dem ist aber nicht so. Man nennt das einen Schlussakkord mit "picardischer Terz".
In Renaissance und Barock hatten die Komponisten Skrupel, ein Stück mit einem Mollakkord enden zu lassen, weil dieser als unvollkommen galt. Die große Terz im Schlussakkord war eine Konvention, an der lange fest gehalten wurde. Aber nur weil ein Stück in Cis-Moll mit einem eis endet, steht es nicht in Cis-Dur!

Bach, Fuge Cis-Moll, Schluss

In den letzten Takten der Cis-Moll-Fuge aus dem 1. Band des "Wohltemperierten Klaviers" von J.S. Bach gibt es fast mehr eis als die Mollterz e. Besonders der Schlussakkord ist eindeutig ein Cis-Dur-Akkord. Das Stück endet mit einer "picardischen Terz".

Zusammenfassung

Ich versuche, die gegebenen Tipps und Warnungen zusammen zu fassen:

  • Stücke in Dur haben weniger Versetzungszeichen im Verlauf des Notentextes. Natürlich kann ein Stück in Fis-Dur stehen und vorne sechs Kreuze haben. Deshalb sollte man zwischen Vorzeichen und Versetzungszeichen unterscheiden!
  • Je länger und damit wahrscheinlich komplexer ein Stück ist, desto mehr Versetzungszeichen tauchen auf, denn Komplexität in der Musik beruht gerne darauf, dass man mehr verschiedene Harmonien nutzt.
  • Stücke in Moll haben eigentlich immer mehr Versetzungszeichen, weil in der Regel Durdominanten vorkommen, und manchmal sogar Subdominanten als Durakkord. Dann braucht man Kreuze, die oft wieder aufgelöst werden, der Notentext sieht also "bunter" aus.
  • Die Ausnahme sind Stücke in reinem Moll, aber die sind wirklich nicht häufig, schon gar nicht, wenn es mehrstimmige Sätze sind.
  • Anfangs- und Schlusston geben nicht wirklich Gewissheit - ein Stück kann auch auf Terz oder Quinte der Tonart enden.
  • Wenn man sicher sein will, muss man in der Lage sein Kadenzen, also harmonische Wendungen aus mehreren Akkorden, korrekt zu analysieren. Kann man besonders die Kadenzen am Anfang und am Ende einer Tonart zuordnen, ist das wohl die Tonart und das Tongeschlecht des Stückes.
  • Es ist normal, das Musikstücke in ihrem Verlauf mehrere Tonarten berühren, also modulieren, und auch dass sie von Dur nach Moll wechseln und umgekehrt. Das macht Musik interessant. Aber auch wenn es in einem Sonatensatz mal wild zugeht, spricht man bei Beethovens Sonate Nummer 1 von einer "F-Moll-Sonate".