Einspielen und aufwärmen
Extra Stücke oder Übungen zu spielen, die nur den Zweck haben, sich aufzuwärmen, sich für das eigentliche Üben vorzubereiten, ist nicht unbedingt in Mode. Gerade der normale Gitarrenschüler, der mit Schule und allem, was sonst noch so los ist genug zu tun hat, übt das Stück, das er auf hat, und fertig. Das finde ich auch sehr verständlich.
Wenn man aber mal einen Moment darüber nachdenkt: es hat ja nicht unbedingt etwas mit Temperatur zu tun, sondern eher mit dem Gehirn und der Verbindung zu den Fingern, mit der Steuerung. Die gilt es wachzurütteln.
Man betrachtet, wenn man sich die Zeit nimmt und genau ist, Standard-Bewegungen sozusagen unter dem Mikroskop. Das kann interessant sein, und nach Meinung vieler Zeitgenossen ausstrahlen auf das "Freispiel".
Wenn ich ein normales Stück übe, wird meine Motivation von Zielen bestimmt wie "den ersten Teil ohne Fehler schaffen", "Dynamik und Agogik einbauen" etc., während beim Einspielen die Motivation auf jede konkrete Bewegung fokussiert ist. Das ist ein ganz anderer Ansatz.
Nicht zu viel auf einmal
Manche Menschen nehmen sich vor, ab morgen täglich zwei Stunden zu joggen. Sicher löblich, aber ist das auch gut, und vor allem - wie lange hält man das durch?
Wenn du diese Warm-up-Übungen interessant findest - beschränke dich vielleicht trotzdem auf wenig. Ein paar Minuten (und damit eine kleine Auswahl der Übungen) ist gut, hat den gewünschten Effekt, und schreckt dich nicht nach einer Woche ab.
Einspielübungen für die Anschlagshand
Wenn ich über Einspielen nachdenke, denke ich spontan zuerst an die Greifhand. Trotzdem steht hier die Anschlagshand vorne, sagen wir mal, weil ich verschiedentlich behaupte, dass sie die wichtigere Hand sei.
Hände sind verschieden
Mit der Anschlagshand ist es so eine Sache! Menschen - und ihre Hände - sind verschieden. Wenn man Gitarristen beobachtet, fällt einem oft auf, dass bei einem der kleine Finger der Anschlagshand ganz ruhig neben dem Ringfinger hängt, beim nächsten bewegt er sich mit diesem mit und wirbelt Luft auf, beim dritten ist er eingerollt in der Hand versteckt, und der vierte Spieler stellt ihn gar auf die Decke, um mehr Halt zu haben, den Ton zu dämpfen, oder den ungebärdigen Kerl am Zappeln zu hindern.
Die Wichtigkeit der Haltung
Besonders die Anschlagshand kann laufen wie geschmiert, oder eben nicht, und das hängt
entscheidend von der Haltung ab.
Ich bin ja nur ein kleiner Gitarrenlehrer, mit
einer Meinung, und die brummele ich mir immer wieder in den Bart, aber - youtube sei
dank kann man heutzutage Dutzende Videos mit Titeln wie "5 Anfängerfehler, die du vermeiden
solltest" oder "Twelve things I wish I had known when I started playing guitar" anschauen, und
die Haltung der Anschlagshand ist immer ein guter Kandidat für die Hitliste.
Einer meiner wirklich guten Schüler spielte mal "Recuerdos de la Alhambra" und kam dann mit der Frage "Ich hab da auf youtube so 'ne Japanerin gesehen, die spielt das in unter 5 Minuten, und ich komme nicht unter sieben?"
Wenn du also mit deinem Lehrer bezüglich der Haltung der Anschlagshand im Clinch liegst, der verbreiteten Meinung bist, dass du besser beurteilen kannst, was bequem für dich ist, und deshalb gar nicht erst probierst, was er dir rät, dann - kommt Zeit, kommt Recuerdos...
Die Finger bewegen sich beim freien Anschlag wie eine Schaukel
Der Zeigefinger bewegt sich wie eine Schaukel,
er landet an der g-Saite,
das erste Fingerglied gibt etwas nach,
nach dem Anschlag schaukelt er weiter.
Geschwindigkeit
Also, ich halte meine Behauptung aufrecht, dass die Hand eher "wie geschmiert" läuft, wenn die Haltung richtig ist, aber Menschen scheinen auch unterschiedliche Grundgeschwindigkeiten in ihren Bewegungen zu haben, nicht nur beim 100-Meter-Sprint. Wenn du gut spielst, und auch bei einem längeren Stück nicht ermüdest und verkrampfst ist alles in Ordnung, auch wenn du das Tempo von Yamandu Costa nicht ganz erreichst.
Zerlegungsstücke
Um die Anschlagshand zu trainieren, einzuspielen, aufzuwärmen gibt es viele wunderbare
Gitarrenstücke, die oft für genau diesen Zweck komponiert wurden. Viele stammen aus der Zeit der
Klassik oder Romantik, sind kurz und einfach, gut strukturiert oder lang und unspielbar.
Mit "gut strukturiert" meine ich in diesem Fall, dass ein Stück zum Beispiel konsequent
drei- oder vierstimmig gehalten ist, du also verschiedene Anschlagsmuster darauf anwenden
kannst.
Während du manche von diesen Stücken vielleicht in drei verschiedenen Ausgaben schon besitzt, ist die Etüde No. 1 von Villa Lobos eine richtige Investition. Allerdings ist sie auch nur etwas für Fortgeschrittene.
Diese weit verbreitete kleine Etüde von D. Aguado zum Beispiel kannst du so spielen, wie sie da steht, oder zusammenstauchen wie unter "a)", und dann andere Anschlagsmuster an ihr üben.
Anton Diabellis opus 39,8 ist ein schönes Stück, das du vielleicht schon hast oder
unter "imslp" findest, etwas spezieller ist Opus 50, 13 von Mauro Giuliani, weil es verschiedene
Anschlagsmuster enthält.
Zu meinen Favoriten gehören die Nummern
2, 3 und 19 aus Carcassis opus 60, aber diese Stücke zeigen denn auch entgültig den
Nachteil auf, den man hat, wenn man sich mit richtigen Stücken einspielt: sie fordern
einen großen Teil deiner Aufmerksamkeit für die Akkordfolgen, Lagenspiel und Stückstruktur,
sodass du vom eigentlichen Vorhaben ganz schön abgelenkt sein könntest.
Zerlegungsübungen
In Karl Scheits Ausgabe Francisco Tárrega - Sämtliche technische Studien gibt es mehrere Seiten mit sehr systematischen drei- und vierstimmigen Anschlagsmustern, die im Prinzip auf leeren Saiten auszuführen sind. Damit man dabei nicht einschläft stellt Tárrega chromatische Intervall- und Akkordfolgen voran, über die man die Zerlegungen statt dessen spielen darf.
Bei den Anschlagsmustern kommt alles mögliche vor: p-i-m-p-m-a, p-m-i-p-a-m - der Komponist versucht, alle Varianten zu zeigen. Im Grunde kann man sich selber die allgemein gültigsten oder gerade die, die einem am schwersten fallen heraussuchen oder sich selber Muster ausdenken. Das versuche ich im Folgenden anzudeuten.
Vierstimmige Zerlegungen
Um ein bisschen "Musik" dabei zu haben, schlage ich eine einfache Kadenz in Quintlage in A-Dur oder A-Moll in der ersten Zeile, und in den Zeilen 2 und 3 zwei einfache Akkordfolgen vor, die es erstmal zu lernen gilt:
Übung 1
In den zwei obigen Zeilen siehst du alle Möglichkeiten, mit
p,i,m,a Zerlegungen in vier Sechzehnteln zu üben. Nutze die drei
Zeilen oben als musikalisches Material.
Einige der Zerlegungen gehen direkt so flüssig,
dass du aufpassen musst, nicht zu eilen, indem du mit der Bewegung der Hand beschleunigst,
andere sind etwas widerborstig und machen deshalb direkt weniger Spaß.
Achte
darauf, dass die Aufhängungspunkte
der Finger über den jeweiligen Saiten sind und stelle dir vor, dass die Finger sich wie eine
Schaukel bewegen. Die Bewegung macht der ganze Finger, der leicht gekrümmt ist, in dem Moment,
wo er die Saite berührt gibt das erste Fingerglied leicht nach, und so gleitet er quasi
zufällig durch die Saite und erzeugt den Ton, so wie ein schaukelndes Kind in der Mitte der
Schaukelbewegung mit den Füßen etwas über den Boden schrappt.
Übung 2
Im ersten Takt von Übung 2 geht es um Repetition der schwächeren Finger m und a. Takt 2 beginnt mit einem gleichzeitigen Anschlag, und im dritten Beispiel habe ich einen 3+3+2 - Rhythmus in den Daumen gelegt. Dazu kannst du dir natürlich auch Variationen ausdenken.
Übung 3
Diese Zeile zeigt Variationen im 6/8 - Takt.
Übung 4
In Übung 4 ist das Thema, einen der Finger einzeln, und zwei gleichzeitig anzuschlagen.
Variante 3 ist am sperrigsten.
Du kannst natürlich erstmal jeden Takt auf 3
Sechzehntelnoten verkürzen, oder auf 6 Sechzehntel erweitern!
Die Möglichkeiten, sich selber Zerlegungen auszudenken sind quasi unendlich. Carcassi, Opus 60,2 ist im Original zum Beispiel eine Tremolostudie. Auch diese Technik kannst du an den Akkordfolgen oben trainieren!
Einspielübungen für die Greifhand
Jeden Finger einzeln
Bei den Vorschlägen für die Greifhand soll es nicht darum gehen, Dinge möglichst flüssig zu tun, also etwa bei der Bewegung eines Fingers den nächsten bereits anzuheben, sondern im Gegenteil jeden Finger einzeln zu bewegen. Dafür benötigst du Langsamkeit und Konzentration!
Du kannst diese Übungen alle ohne Anschlagshand machen, um dich voll auf die Finger der Greifhand zu konzentrieren!
In den oberen Lagen beginnen
Die Übungen für die Greifhand habe ich in Tabulatur angegeben, weil sie als Noten nicht
unbedingt sinnvoll sind, als Ziffernfolgen aber direkt einleuchten.
Sie sind alle in der
ersten Lage notiert, weil die Bundziffern dort den Fingersätzen entsprechen, aber du solltest
sie auf keinen Fall dort beginnen! Merke dir als Grundregel:
Beginne weiter oben auf dem Griffbrett, wo die Bünde enger bei einander liegen!
Um dich zu steigern, kannst du dann immer einen Bund tiefer gehen.
Übungen auf einer Saite
Diese Übungen kannst du natürlich auf allen Saiten machen - ich bevorzuge die Diskantsaiten.
Übung 1
Zu dieser Übung kannst du dir Varianten ausdenken. So wie sie hier steht spielst du auf der
hohen e-Saite die Finger 1-2-3-4, schiebst dann den 1. Finger in
den zweiten Bund und spielst von dort wieder 1-2-3-4, bis du am
oberen Ende des Griffbrettes angekommen bist. Dort machst du das ganze rückwärts, spielst
also 4-3-2-1 und krabbelst wieder nach unten.
Hinweis: ich
habe es so herum aufgeschrieben, weil es sinnvoller scheint, Dinge mit "1" zu beginnen, ich
würde aber trotzdem vorschlagen, mit dem Rückweg zu beginnen. Dann stehen zunächst
auch alle vier Finger, und du hebst sie nacheinander ab. Achte darauf, jeden Finger,
besonders den kleinen, dicht über den Saiten zu halten! Das habe ich versucht, zu
fotografieren.
Mögliche Varianten: rutsche direkt nach den ersten vier Tönen zu Bund 5, dann zu Bund 9, und abwärts ebenso, um Lagenwechsel dabei zu haben.
Die Finger im 4. Takt von Übung 1:
Der 4. Finger wird angehoben.
Der 3. Finger auch, der 4. bleibt nah am Griffbrett.
Der 2. Finger folgt, nur der 1. bleibt liegen.
Übung 2
Diese Übung ist im Grunde eine Variation der vorigen. Du spielst die Abfolge
1-2-3-4-schieben-4-3-2 und krabbelst so das Griffbrett hoch
beziehungsweise herunter. Du könntest auch
1-2-3-4-3-2-1-schieben-1-2...
als Variante spielen, oder wieder Lagenwechsel einbauen - es gibt viele Möglichkeiten, die
Aufmerksamkeit wach zu halten. Immer auf kleine Bewegungen achten, und die Finger nicht hoch
anheben ist die Devise!
Eventuell wieder mit der zweiten Zeile beginnen!
Übungen quer über das Griffbrett
Diese Übungen solltest du unbedingt in den oberen Lagen beginnen, auch wenn ich zur Darstellung die erste Lage gewählt habe!
Gehe nur bis zur A-Saite oder sogar nur bis zur d-Saite, wenn die 6.Saite unbequem zu erreichen ist! Zuviel Ehrgeiz, besonders bei den "zweistimmigen" Übungen, kann zu Verkrampfungen führen, bleibe lieber im lockeren Bereich!
Andererseits darfst du, wenn dich die Handhaltung bei den tiefen Saiten (besonders im Handgelenk) stresst, deine Haltung überprüfen. Bewegungen, die man richtig ausführt, sind häufig weniger anstrengend als solche auf Grundlage einer falschen Haltung.
Die "Computerübung"
Diese Übungsserie habe ich vor langer Zeit auf einem Lautenkurs kennen gelernt. Anthony Bailes
führte sie damit ein, dass er erklärte:
Wenn man die Finger der Greifhand
1-2-3-4 gleichzeitig auf eine Saite stellt, kann man beobachten,
dass der Zeigefinger und besonders der kleine Finger die Tendenz haben, nach außen zu kippen.
Es gibt aber Muskeln, die dafür sorgen, dass auch diese beiden gerade stehen bleiben. Man muss
sie nur entdecken und dann trainieren. Wenn es zum Beispiel mit dem kleinen Finger nicht gut
klappt, nimmt man einfach die andere Hand und stellt ihn gerade hin. Das habe ihm eine
achtjährige Schülerin gezeigt.
Übung 3a
Übung 3b
Stelle einfach die Finger der Greifhand nacheinander auf die e-Saite, dann setzt du jeden Finger einzeln um auf die h-Saite und so weiter. Mache das ohne Anschlag, konzentriere dich einfach auf gute, kleine Bewegungen und darauf, dass die Finger gut stehen, fertig.
Der Name "Computerübung" stammt daher, dass es 16 Varianten gibt. Mache jeden Tag eine andere, um motiviert zu bleiben.
1-2-3-4; 1-2-4-3; 1-3-2-4; 1-3-4-2; 1-4-2-3; 1-4-3-2.
2-1-3-4; 2-1-4-3; 2-3-1-4;
2-3-4-1; 2-4-1-3; 2-4-3-1.
3-1-2-4; 3-1-4-2; 3-2-1-4; 3-2-4-1; 3-4-1-2; 3-4-2-1.
4-1-2-3;
4-1-3-2; 4-2-1-3; 4-2-3-1; 4-3-1-2; 4-3-2-1.
Sieht doch tatsächlich ziemlich digital aus, und die letzte Folge ist die Umkehrung der ersten... oben stehen die beiden ersten Abfolgen als Tabulatur. Wenn man auf der tiefen E-Saite angekommen ist, dreht man wieder um, und oben rutscht du dann zum Beispiel vom 7. in den 6. Bund.
Zweiergruppen
Hier gehören immer zwei Finger zu einer Gruppe, und die Gruppen watscheln über die Saiten.
Übung 4
Setze jeden Finger einzeln. Wenn du das ganz ordentlich machst, hörst du immer wieder drei Töne gleichzeitig, das habe ich unter der nächsten Übung als Foto zu zeigen versucht.
Wenn du zum Beispiel im freien Anschlag mit i-m-a-m spielst, hast du gleichzeitig eine Übung für die Anschlagshand, aber vielleicht möchtest du anfangs nur die Finger der Greifhand setzen.
Übung 5
Hier setze ich gerade den 1. Finger auf die g-Saite, ich bin also beim 1. Ton des zweiten Taktes von Übung 5. Gehalten sind noch der 2. und der 4. Finger auf der h-Saite, und der 3. Finger auf der e-Saite. Wenn ich es gut mache, höre ich Ton zwei, vier und fünf.
Hier setze ich gerade im fünften Takt den 1. Finger auf die d-Saite. Der 3. Finger steht noch auf der E-Saite, Finger 2 und 4 auf der A-Saite. Ich höre vom 4. Takt die Töne zwei und vier, und den ersten Ton von Takt fünf.
Übung 6
Das war die dritte mögliche Zweierkombination.
Übung 7: Die Spinne
Die "Spinne" ist eine Übung, die etwas auf die Muskeln geht. Ich habe sie nur bis zur 5. Saite notiert, dann tritt sie den Rückweg an. Gib dich ruhig erstmal mit kleineren Spinnchen ab, es sei denn, du bist mit riesigen Händen gesegnet.
Die drei Varianten basieren auf den gleichen Zweiergruppen von Fingern wie die vorigen Übungen. Du wirst merken, dass sie unterschiedlich bequem sind.
Versuche die nächste Fingergruppe an ihren Ort über dem Griffbrett zu bewegen, während die vorige Gruppe noch steht. Lass die Spinne "die Beine strecken", und dann wieder enger werden. Dann kannst du einen Bund tiefer gehen, um die Streckung zu erhöhen. Beginne unbedingt in einer hohen, bequemen Lage!
Eine Extraübung ist es, die Spinne "zögern" zu lassen. Du greifst den Ausgangsgriff mit den Fingern 1,2, bewegst dann die Finger 3,4 über ihren jeweiligen Bund, also den dritten Finger über die h-Saite und den ersten Finger über die e-Saite, bewegst sie dann in der Luft zurück über die jeweils "falsche" Saite, und dann endgültig über die richtige Saite und stellst sie hin. Wenn einige Saiten zwischen den Fingern liegen, ist das herausfordernd und erfordert Konzentration.