Gitarre und Musiklehre, U. Meyer

La Folia oder Les folies d'espagne

Das harmonische Modell Folia ist sicher das bekannteste, und es stammt als einziges der Stücke, die ich mir vorgenommen habe, nicht aus der Renaissance. Es gibt frühe Formen der Folia, die nicht viel mit der "eigentlichen" Folia zu tun haben, und eben Stücke wie die auf der Vorseite genannten Chitarronestücke von Piccinini und Kapsberger, die das Wort im Titel haben, aber völlig anders aufgebaut sind. Logischerweise gibt es hier also bei diesem Stück kein Beispiel von Diego Ortiz, und auch keine Beispiele von Lautenmusik in Renaissancestimmung.

Auf einer umfangreichen und alten Webseite (anscheinend 1998 gestartet), die sich mit der Folia beschäftigt und Unmengen von Informationen enthält, kann man viel lesen und Links zu weiterführenden Seiten die Menge finden, wenn man sich für die Geschichte des Stückes interessiert.

Les folies d'espagne, Lully

Zahllose Komponisten des Barock, der Klassik und Romantik, auch Gitarristen wie Fernando Sor und Mauro Giuliani, bis hin zu Franz Liszt, Ferrucio Busoni und Sergei Rachmaninoff haben Variationen und Fantasien über das Thema geschrieben. Vangelis' "Conquest of Paradise" liegt es zu Grunde, und eines der Hauptthemen der Filmmusik des sehenswerten Kubrick-Films Barry Lyndon ist G. Fr. Händels "Folia" nach der Sarabande in D-Moll aus der Suite Nr. 11 für Cembalo in einer freien Bearbeitung für Orchester.

Es ist schwierig, eine "früheste" Fassung des Stückes dingfest zu machen. Jean Baptiste Lully schrieb 1672 auf Auftrag des Königs die Air des hautbois. Les folies d'espagne, deren Anfang hier zu sehen ist. Das komplette Stück findet man hier; es steht auf Seite 38/39 in einer Sammlung, die auch auf imslp verlinkt ist, aber nicht mehr erreichbar scheint.

Die harmonische Struktur der Folia bei Lully:
i | V | i | VII | III | VII | i | V |
i | V | i | VII | ¹³ III III v | VI | iv V⁴ V³ | i ||

Zu den bekanntesten barocken Versionen gehört sicher die von Arcangelo Corelli, die Violinsonate op. 5,12, die im Jahre 1700 veröffentlicht wurde.

Corelli, Folia, Sonate op. 5,12

Bei Corelli ist die harmonische Struktur etwas abgewandelt. Er bringt im dritten und zwölften Takt auf der zweiten und dritten Zählzeit einen Dreiklang auf der ersten Stufe mit hochalterierter Sexte statt Quinte, also einfach gesagt eine Zwischendominante ohne Grundton zur VII. Stufe, außerdem eine Dominante als Sextakkord am Ende von Takt 6, um zur Molltonika in Takt 7 überzuleiten. Vor dem Schluss der ersten Hälfte des sechzehntaktigen Themas hat er einen 7-6-Vorhalt auf der VI. Stufe, sodass die Dominante im Bass über einen Halbtonschritt angesteuert wird.
Corelli baut also einige raffinierte Verbindungen ein, es ist eine ähnliche Entwicklung wie beim Passemezzo von den frühen Renaissancestücken zu den Fassungen des frühen 17. Jahrhunderts zu beobachten:

i | V | i i6♮ i6♮ | VII | III | VII VII V6 | i VI7 VI6 | V |
i | V | i i6♮ i6♮ | VII | ¹³ III | VII V6 i | iv V4 V | i ||

Andrea Falconieri, 1650

In der chronoligischen Liste der Folias auf der oben genannten holländischen Seite findet sich als erstes bei den "späten Folias" Andrea Falconieri. Hier der Anfang seines Satzes, Herausgeberin: Patricia González. Die Bearbeitung steht unter dieser Lizenz.

Andrea Falconieri

Die Harmoniefolge in Falconieris Satz ist noch etwas schlichter; besonders fällt auf, dass er in Takt 13 die VII. Stufe von Takt 12 einfach stehen lässt:

i | V | i | VII | III | VII | i | V |
i | V | i | VII | ¹³ VII | i | V⁴ V³ V³ | i ||

Jacques Gallot, 1670

Vergleichsweise früh, zwischen 1670 und 1675, ist auch die Sammlung Pieces de luth composéés sur differens modes par Iacques de Gallot erschienen. Bereits auf der Umschlagseite steht Avec Les folies d'Espagne enrichies de plusieurs beaux couplets - wenn das Stück als Werbung dient, muss es populär gewesen sein. Die "Folies" sind als letztes Stück des Buches ab Seite 71 gedruckt. Unten sieht man die erste Seite des Stückes aus dem Saizenay - Manuskript.

de Gallot, saizenay Ms.

Zeichen und Interpretation

Für meine Übertragung habe ich nicht die Saizenay-Version, sondern die aus dem Buch "Pieces de luth" genutzt.
Die Tabulaturen der Zeit des "Style brisé" in Frankreich enthalten eine Unmenge zusätzlicher Zeichen, die sich auf die Spielweise beziehen - um beides wurde von den Protagonisten ein ordentliches Geheimnis gemacht. Deshalb gibt es hier auch keine aus den Noten generierte mp3 - der Notentext gibt nicht entfernt das wieder, was man hören möchte. Es gibt gute Einspielungen, notabene die von Anthony Bailes, die zum Teil auch online zu finden sind.

Ich habe versucht, die Zeichen in die Noten einzutragen, wobei einige der Zeichen für die Anschlagshand nur in der ersten Variation oder bei ihrem ersten Auftreten stehen - sie stehen in der Tabulatur überall, auch wenn sie selbstverständlich sind.

Rhythmik

Als erstes sollte man etwas über Inégalité wissen. Die rhythmische Grundregel für französische Musik dieser Zeit ist, dass der kleinste strukturbildende Notenwert in einem Stück inegal zu spielen ist. Die erste von zwei Achteln wird etwas (nach Geschmack) verlängert, die zweite entsprechend verkürzt. Dies macht man nur dann nicht, wenn eine Phrase aus Sprüngen besteht, oder wenn über den Noten "Croches égales", also "Achtel egal spielen" steht.

Anschlagshand

Die wichtigsten Zeichen für die Anschlagshand sind:

  • Ein Punkt unter einer Note (z.B. zweiter Ton im Notenbeispiel unten) bedeutet: dieser Ton wird mit dem Zeigefinger angeschlagen.
  • Ein senkrechter Strich unter den Noten (Takt 13) heißt: Daumenschlag.
  • Dieser senkrechte Strich mit schräg horizontalem Strich darüber (Takt 1, zweite Viertel) bedeutet wohl, dass der Daumen bis zur höchten Saite streicht; diese wird mit einem Finger angeschlagen. Daumen und Finger schlagen fast gleichzeitig in Gegenrichtung.
  • Punkte hinter mehreren Notenköpfen (Takt 2, letzte Viertel; die Punkte sind dicker als die der punktierten Noten, und das Verwechslungsproblem taucht in der Tabulatur ja nicht auf, weil da der Rhythmus über den Tönen notiert wird) verlangen, dass der Zeigefinger mehrere Saiten von hoch nach tief durchstreicht.
  • Punkte vor mehreren Notenköpfen (Takt 26 vor der Drei): der Zeigefinger streicht von tief nach hoch durch.
  • Ein abwärts gehender horizontaler Strich unter zwei Tönen ( Takt 14, letzte zwei Achtel) bedeutet, dass diese Töne auf benachbarten Saiten nach einander mit dem Zeigefinger angeschlagen werden, wodurch der zweite Ton etwas "impulsloser" kommt.
Verzierungen

Die Verzierungszeichen in Gallots Buch:

  • Vor der Halben a auf der Zwei im ersten Takt steht eine Art "Accent circonflexe": Dies ist eine Verzierung von unten, sodass vor dem a ein gis erklingt, oder die Tonfolge a-gis-a-gis.
  • Das Komma hinter dem gis im zweiten Takt bedeutet einen einfachen Vorhalt oder einen Vorhaltstriller, also eine Verzierung mit der oberen Nebennote, die auch mit dieser beginnt.
  • In Takt 25 steht hinter der ersten Note ein kleines "v", das einen Mordenten zu bedeuten scheint, man hört also c-h-c.
  • Der horizontale Trennungsstrich ohne den senkrechten Strich darunter (Takt 45 auf Eins und Drei) ist eine merkwürdige Verzierung, die typisch für den Stile brisé, den "gebrochenen Stil" ist: die Noten stehen übereinander, werden aber nicht nur nicht gleichzeitig gespielt wie ein gebrochener Akkord, sondern richtig getrennt, sodass man eher (inegale) Achtel hört. Zusammen mit der grundsätzlich anzunehmenden Inégalité führt vor allem dieses Zeichen (das in Gallots "Folies" vergleichsweise selten vorkommt) dazu, dass man sich beim Mitlesen oft fragt, wie der Interpret denn jetzt auf diesen Rhythmus kommt, der gar nicht zu sehen ist.

Die Interpretation so eines französischen Barocklautenstückes dieser Zeit ist also ein komplexes Gebilde aus Tönen, die oft auf eine ganz bestimmte Art und Weise angeschlagen werden müssen, rhythmischen Finessen, die man nicht unbedingt gewohnt ist und vielen und sehr differenziert zu gestaltenden Verzierungen.

Durch die A-d-f a-d'-f' - Stimmung der ersten sechs Chöre der elfchörigen Laute gibt es im Notentext etliche Noten "doppelt", zum Beispiel gleich im ersten Takt. Das liegt daran, dass zusätzlich zum a auf dem a-Chor das a im 4. Bund des f-Chores gegriffen wird, und auf diesem wird dann auch die Verzierung von unten gemacht, die auf einer leeren Saite ja nicht funktionieren würde. Es ist gewollt, dass gleichzeitig der Ton a und das gis der Verzierung zu hören sind.
In diesem Sinne kann man das Stück auf einer Gitarre nur andeutungsweise nachspielen; Musik für Barocklaute auf der Gitarre funtioniert nicht wirklich gut.

Die Form

Die Folies von Gallot haben eine etwas abgewandelte Form: der zweite Teil hat einen Takt mehr, da nach der Voltenklammer 2 eine Hemiole eingeschoben ist, sodass jede Variation 17 statt 16 Takte umfasst. Ich habe die Akkorde der Hemiole blau formatiert, damit sie auffallen. Die Taktzählung des Notenbeispiels sieht anders aus, weil die wiederholten Takte nur einfach gezählt werden, die eingeschobene Hemiole liegt dort in den Takten 10/11.

i | V | i | VII | III | VII | i | V |
i | V | i | VII | ¹³ III | VII VII III⁶ | VI VI iv | iv⁶⁵ V⁴ V³ |¹⁷ i ||

de Gallot, folies d'espagne 1
de Gallot, folies d'espagne 1
de Gallot, folies d'espagne 1

Gaspar Sanz, 1675

Sanz' Folia steht gleich auf der ersten Notenseite seiner 'Instrucción de música sobre la guitarra española von 1674/1675. Sie ist wie bei Falconieri auch eher einfach von den Akkorden her, allerdings steht bei Sanz die anscheinend üblichere III. Stufe in Takt 13, in Takt 14 folgt die VII. Stufe, und die abschließende Kadenz mit t-D⁴ D³ | t | steht in den beiden letzten Takten.
i | V | i | VII | III | VII | i | V |
i | V | i | VII | ¹³ III | VII | i V⁴ V³ | i ||

Gaspar Sanz, Folia

Division Flute

Der Titel "Faronells Ground" aus der Sammlung The Division Flute von 1706 oder 1708 ist wohl eine falsche Schreibweise von "Farinel" oder "Farinelli".

Das Stück beruht also eigentlich auf einer frühen Version, und ist harmonisch dementsprechend einfach und traditionell. Auf das Thema folgen natürlich weitere Divisions.

Faronells Ground

Gitarrenstücke

Der Vollständigkeit halber seien hier noch zwei Foliavariationen für klassische Gitarre verlinkt: einmal Mauro Giulianis op. 45 6 variations sur Les folies d'Espagne und von Ferdinando Sor Les Folies d'Espagne variées, et un Menuet, Opus 15.

Die beiden Werke fallen zeitlich natürlich völlig aus dem bisher gesteckten Rahmen, zeigen aber, wie das Thema in der Sprache der Klassik / Romantik behandelt wurde.

Die Folia-Harmoniefolge ist jedenfalls immer das Erste, was mir zu spielen einfällt, wenn ich eine Barocklaute ausprobiere, da ich keine mehr besitze und dementsprechend kein Repertoire parat habe. Für solche Fälle zum Beispiel ist es gut, die frühen Harmoniefolgen zu kennen und ein bisschen spielen zu können.