Diego Ortiz, 1553
Auch die Recercada Settima bei Ortiz hat keinen Titel außer der Nummer, der Name "Romanesca" taucht nicht auf. Sie umfasst 16 Takte, die um eine angehängte Coda von zweimal vier Takten erweitert sind, die nicht unbedingt zur Romanesca zu gehören scheinen, bei anderen Beispielen fehlen sie jedenfalls.
Die Romanesca steht meist im Dreiertakt, und ist bei Ortiz lydisch notiert, also mit
einem Kreuz zuviel (im Original mit einem ♭ zu wenig). Wenn man sie vom
Anfangsakkord her als lydisch auf g
betrachtet, ist die Harmoniefolge:
I | I | V | V |⁵ vi | vi | III | III |
⁹
I | I | V | V |¹³ vi | ii III⁴ III³ | vi (VI) | vi (VI) |
¹⁷ ii | ii III⁴ III³ | VI | VI |²¹
ii | ii III⁴ III³ | VI | VI ||
Sieht man das Stück eher vom Schluss her, wäre es dorisch in
e notiert, und die Harmoniefolge müsste so geschrieben werden:
III | III | VII | VII |⁵ i | i | V | V |
⁹
III | III | VII | VII |¹³ i | iv V⁴ V³ | i (I) | i (I) |
¹⁷ iv | iv V⁴ V³ | I | I |²¹ iv |
iv V⁴ V³ | I | I ||
In den Schlusstakten 15 und 16 vor der angehängten Coda spielt bei Ortiz die Gambe mal die kleine, mal die große (picardische) Terz, deshalb habe ich dort die "VI" beziehungsweise die "I" in Klammern gesetzt. Ganz am Schluss, in Takt 23/24 steht natürlich die große Terz in der Gambe, also insgesamt ein Durakkord.
Luys de Narváez 1538
Das Stück Diferencias sobre "Guárdame las vacas" von Luys de Narváez, 1538, das der
Form der Romanesca entspricht, ist unter Gitarristen wieder durch die Ausgabe von
Emilio Pujol ziemlich bekannt.
Wie man am Auschnitt der Tabulatur sieht, sind
wieder je zwei Halbe durch "Ordnungsstriche" zusammengefasst, die tatsächliche Taktstruktur muss
man sich selbst erschließen.
Während die Harmoniefolge bei Ortiz aus 16 Takten besteht,
umfasst sie bei de Narváez nur acht Takte. Am Schluss der vier Variationen gibt es eine
viertaktige Coda.
Meine Übertragung sieht ein bisschen anders aus als die Pujols - sonst wäre es ja auch langweilig (Pujol hat außerdem in Takt 7 und 30 den Notentext gegenüber der Tabulatur etwas verändert). Ich lasse die Melodie in den ersten beiden Takten der zwei ersten Zeilen jeweils beim g enden und ordne die beiden letzten Viertel dem Bass zu. Die Idee dabei wäre, sie leicht auftaktig in den nächsten Takt führen zu lassen. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie die eigentliche Melodie des Liedes "Guardame las vacas" tatsächlich geht.
Am Ende von Takt 15 steht bei mir in der Melodie eine halbe Note gis, und das folgende e lasse ich in einer Mittelstimme (ohne vorangehende Pausen) folgen, ähnlich in Takt 23. Das ist vielleicht fragwürdig, zumindest im ersten Fall, weil das e nirgendwo hin aufgelöst wird, macht klanglich aber doch ein wenig aus.
In der dritten Variation habe ich vor allem im Bass längere Notenwerte gesetzt - auch das ist natürlich Geschmackssache wie jede Interpretation oder Übertragung.
Le Roy, 1568
Die Gaillarde romanesque, ihre Diminuition und "Fredon sur la Romanesque" von Adrian Le Roy stammen wieder aus A briefe and easye instru[c]tion to learne the tablature, 1568. Am Schluss von "Otherwise", der verzierten Fassung, habe ich Voltenklammern eingefügt. Diese fehlen in Lautentabulaturen in der Regel; man spielt beim ersten Mal einfach das, was da steht und lässt beim richtigen Schluss die Töne weg, die für den Übergang zur Wiederholung nötig sind.
Am Ende von Takt 4 steht in der Diminuition in der Oberstimme ein gis, das als Leitton zum folgenden a fungiert gegen das G im Bass - so ein Querstand macht dem Komponisten an dieser Stelle nicht viel aus. Außerdem wird hier eine übermäßige (!) Oktave in eine Oktave geführt - eigentlich stimmführungstechnisch gruselig, aber es zeigt meiner Meinung nach sehr schön, wie nah die notierten Diminuitionen an der Improvisationspraxis sind.
Bei "Fredon sur la Romanesque" habe ich in der Capella-Datei, aus der ich die mp3 generiert habe das Tempo ordentlich reduziert, aber das Stück ist immer noch virtuos.
Girolamo Kapsberger, 1604
Giovanni Girolamo Kapsberger war offenbar als Lautenist eine schillernde Persönlichkeit; die Meinungen über seine Fähigkeiten als Komponist divergieren. Im Artikel der englischen Wikipedia ist das ganz interessant dargestellt.
Das Stück Romanescha aus
Girolamo Kapsberger, Libro Primo D'Intavolatura di Chitarone, Venezia 1604 wirkt
etwas verworren, wobei das Thema nur wenig seiner bisweilen bizarren Ideen zeigt. Die
Übertragung der fünf Variationen spare ich mir wieder, wegen der weiter
vorne
dargestellten Schwierigkeiten, Musik für Chitarrone in Noten zu übertragen.
Ich bleibe
auch hier bei dem Verfahren, die Noten auf den beiden ersten Saiten
blau zu schreiben.
Das Stück ist, wie schon häufiger gesehen, mit zwei Halben pro "Takt" notiert, steht aber im
3/1-Takt. So übertragen entspricht das harmonische Schema der Romanesca, wobei das
Stück 8 1/3 Takte umfasst. Es kommt bei Takt 8 (bei Ortiz Takt 15/16) normal beim G-Moll-Akkord
an, aber dann ist eine "Petite Reprise", eine kleine Wiederholung nicht eines ganzen Teils,
sondern nur weniger Takte notiert, die das Stück auf 9 1/3 Takte bringt, wenn man diese Coda
auszählt.
Der Wechsel zwischen den Noten e und
es, das plötzliche Auftauchen einer Achtelfigur - wie war noch mal das
Grundtempo? - und das vom Taktgefüge her ungerade Ende sorgen für Unsicherheit: man weiß beim
Spielen nicht so richtig, wie man das Stück zu Ende bringen soll. Auf youtube gibt es denn auch
eine Aufnahme, die eher vorsichtig suchend klingt, und weniger rhythmisch prägnant, wie man es
bei einem Tanz erwarten würde.
Hier eine Transposition um einen Ganzton nach oben, um das Stück auf der Gitarre spielbar zu machen.
Alessandro Piccinini, 1623
Im Buch Di Alessandro Piccinini, Bolognese Intavolatura di Liuto, et di Chitarrone Libro Primo von 1623 steht im Teil mit den Stücken für Chitarrone auf Seite 92 die "Romanesca con partite variate", die kurioserweise praktisch den gleichen Aufbau hat wie Kapsbergers "Romanscha". Ob Piccinini die frühere Publikation gekannt hat? Oder hat sich die Form aus 8 1/3 Takten mit anschließender Coda, die hier "Ripresa" heißt inzwischen allgemein durchgesetzt?
Hier eine einfache "Analyse" in Akkordbuchstaben, um zu zeigen, dass die Grundstruktur immer noch dem Modell von Ortiz, de Narváez und Le Roy entspricht (die Kommata trennen die 3 Ganzen der Takte):
3/1 B B , g6 F/A , g7-6 | F F , F F , g D/Fis | g g , g d/F , A7/E A7/E |
D D , D D , C
C6 |⁵ B B , B C6 , d C | F F , F B/D , C/E D/F# |
g G , C c ,
D4- 3 | G G , G Ripresa: g F Es C |
⁹ D D , B g , A A7/E | D
C7 , D g , D4 D | G g ||
Piccinins "Ripresa", eine gut strukturierte Abfolge von modulierenden Akkorden, umfasst eigentlich genau 3 Takte, sodass dem um einen "ordentlichen Ablauf" bemühten Spieler (ich bekenne mich schuldig) die Idee kommen könnte, die Schlussnote am Anfang von Takt 8 eine weitere Ganze ausklingen zu lassen, die ersten zwei Viertel der Ripresa als Auftakt zu nehmen, sodass der Es-Dur-Akkord auf die nächste "Eins" kommt, und dann ganz am Schluss den letzten G-Moll-Akkord wieder bis zum Taktende ausklingen zu lassen. Man könnte natürlich auch einfach "nur" den Schluss der Ripresa ausklingen lassen, ohne Takt 8 zu verändern.
Die häufig am Schluss von Stücken oder ihren Teilen gesetzten "nachkleckernden" Akkordtöne sind für mich jedenfalls keine strukturell wichtigen Noten, und können meiner Meinung nach bei Wiederholungen kreativ ausgelassen werden, sodass zum Beispiel ein klarer Akkord am Schluss steht oder die Musik bis zum Taktende ausschwingt. Ich glaube jedenfalls nicht wirklich daran, dass die Komponisten systematisch bewusst ungerade Schlüsse geschrieben haben.
In den nicht übertragenen Variationen sind die Übergänge zwischen Romanesca und Ripresa auch
unterschiedlich gestaltet, besonders, wenn letztere plötzlich im Dreiertakt notiert ist.
Hier mein Vorschlag einer "flurbereinigten" Taktstruktur:
Zum Abschluss wieder eine etwas höhere Fassung, die auf der Gitarre leichter nachzuspielen ist:
"La folia aria romanesca"
Im gleichen Buch von Piccinini gibt es auf Seite 120 ein Stück mit dem Titel "Partite variate sopra la folia aria Romanesca", ebenfalls für Chitarrone. Es hat eine Harmoniefolge, die nichts mit der "Romanesca" der Renaissance zu tun hat, aber auch nichts mit der "Folia", die später außerordentlich populär wurde:
3/2 D D g | F F F | F F C | D D D |⁵ D D g | F F F | g g F c D4 3 | G G ||
Das Stück beginnt mit zwei Achteln Auftakt, und auch ihm "fehlt" übrigens im Thema wie in einigen Variationen eine Viertel am Schluss, um den 3/2-Takt mit dem Auftakt "aufgehen" zu lassen
Bei Kapsberger gibt es eine Variationsfolge über die gleichen Harmonien unter dem Titel "Folia" - auch hier also wieder die Frage, ob Piccinini Kapsbergers Stück kannte.
Kapsberger schreibt übrigens im ersten Takt jedes Teils immer eine ganze Pause und dann zwei Viertel (also einen etwas längeren Auftakt), und am Ende jedes Teils einen Takt mit 5 Vierteln - es lebe der lockere Umgang mit Notenwerten!