Verschiedene Zeiten und Stile
Improvisation gibt es im Jazz oder in antiker Rockmusik. Und natürlich gibt es Improvisation in Neuer Musik, und es gibt eine freie Szene von Musikern, die improvisieren, sich aber nirgendwo einsortieren lassen.
Früher lernte man - wenn man etwas Gitarre spielen konnte - die Akkordfolge über den Noten unten zu spielen, und vielleicht sogar das Begleit-Riff selbst. Und man lernte beim Solo-Spielen die Töne der passenden pentatonischen oder der Bluestonleiter zu nutzen. Dadurch konnte man mit anderen zusammen etwas improvisieren, oder eventuell sogar etwas spielen, das auf einer Gitarre allein gut klang.
Dieses Notenbeispiel und die Beispiele der folgenden Seite (man erkennt sie daran, dass es transparente Vektorgrafiken sind) habe ich mit der Software LilyPond erstellt. Hier ein Erfahrungsbericht über das Arbeiten mit dieser freien Software.
Man kann auch mit den Stilmitteln vergangener Epochen improvisieren. Um im Stil der Lautenisten der Renaissance oder des Barock zu improvisieren braucht man allerdings auch einiges an Vorwissen. In erster Linie sollte man natürlich viele Stücke aus der Zeit gespielt haben. Ich halte aber drei Dinge für besonders wichtig oder nützlich:
- Die Verzierungstechnik der Renaissance, die sehr verschieden von der späterer Epochen ist und einen direkten Einfluss auf die Struktur der Instrumentalmusik hat.
- Die Struktur der Tänze, ihre Mehrteiligkeit, Variationsprinzipien und das Paar Tanz und Nachtanz.
- Verbreitete Harmonieschemata wie Pass'e mezzo oder Romanesca, über die es viele Stücke gibt, deren Stil man imitieren üben kann.
Improvisation mit "alter Musik"
Bewegen wir uns etwas rückwärts durch die Zeit: von "Kadenzen" in Konzerten für
ein Soloinstrument und Orchester aus Klassik und Romantik weiß man, dass sie ursprünglich
improvisiert wurden, zumal von den Komponisten selber.
Der erste Satz geht auf den Schluß
zu, das Orchester spielt eine Fermate auf einem Quartsextvorhalt, und der Solist spielt alleine
weiter, und zwar das, was ihm gerade einfällt. Irgendwann signalisiert er mit einem gut
platzierten Vorhaltstriller, dass das Orchester wieder einsteigen soll, und dann kommt
tatsächlich der Schluss des Satzes. Von der "Schnittstelle" dieser Improvisation, die immer
innerhalb einer prägnanten Kadenz liegt, hat dieser Formteil seinen Namen.
Diese Improvisationen wurden zunehmend durch auskomponierte Versionen ersetzt, die vom Komponisten, aber auch von namhaften Solisten stammen können. Sie haben also noch etwas Improvisatorisches an sich, sind aber festgelegt.
Renaissance und Generalbasszeitalter
Das Barock wird auch "Generalbasszeitalter" genannt, weil diese Schreibweise und Technik der Begleitung die gesamte Musik bestimmt. Entwickelt im Frühbarock in Italien, setzt der Komponist bei mehrchörigen Werken, also Stücken für mehrere Vokal- oder Instrumentengruppen eine durchlaufende Bassstimme für alle, die "basso continuo" oder "Generalbass" genannt wird. Diese Stimme wird zunehmend genauer mit Ziffern versehen. Die Ziffern bedeuten die Akkorde, die über dem Bass zu spielen sind. Wenn keine da sind, muss man sachverständig raten.
Adagio aus der G-Moll-Sonate von G. Fr. Händel, HWV 360
Es ist auch nicht festgelegt, welche und wie viele Instrumente die Begleitung
ausführen. Es kann ein Cembalist sein, oder auch eine Gambe, Harfe, Laute, Barockgitarre,
Chitarrone und eine kleine Orgel. Jeder spielt nach dem Basso continuo, das Ergebnis ist eine
Gruppenimprovisation, die natürlich mit zunehmender Eingespieltheit und Probendauer auch durch
Verabredungen und Festlegungen geprägt sein wird.
Es gibt im Netz inzwischen viele tolle
Videos von solchen Ausführungen, bei denen der Zuschauer natürlich nicht weiß, was improvisiert
und was festgelegt ist.
In modernen Ausgaben barocker Werke stehen oft ausgeschriebene
Begleitungen (meist für die rechte Hand eines Tastenspielers), die im Original nicht vorhanden
sind.
In der Renaissance, der Zeit vor der "Erfindung" des Generalbasses, wurden Begleitungen mit Sicherheit auch improvisiert, und in der Zeit vor notierter Musik (im Mittelalter wurden geistliche Werke notiert, Tanzmusik eher nicht) gab es bestimmt ein verbreitetes Wissen um bekannte Tanzmusikharmoniefolgen, so wie man heute in manchen Kreisen sebstverständlich einen "Blues in C" spielen kann.
Diminuieren: Verzierungspraxis in der Renaissance
Eigenes Beispiel für mögliche Verzierungen der Tonfolge h - c.
Die Verzierungspraxis in der Renaissance unterscheidet sich grundlegend von der des Barock: während man im Barock Stücke mit "Manieren", Trillern, Vorschlägen, Mordenten, Doppelschlägen etc. auszierte, die als Zeichen bei den Noten stehen, ist die Standard - Verzierungstechnik der Renaissance die Diminuition.
Das Wort bedeutet "Verkleinerung", das heißt man ändert eine Notenfolge, indem man sie mit kleineren Notenwerten umspielt. Diese Praxis bestimmte die Entwicklung besonders der instrumentalen Musik und auch die musikalischer Formen.
Wenn ein Lautenkomponist ein Vokalstück "intavoliert", also für Laute(n) setzt, diminuiert er dabei die Stimmen. Dabei kommt oft ein Stück heraus, dass kaum in dem Tempo zu spielen ist, in dem es ein Vokalensemble ausführen würde. Es ist virtuose Instrumentalmusik geworden, und die Art der Diminuierungen sind denn auch typisch für Komponisten und Stile.
Lehrbücher für Diminuitionen
Es gibt einige sehr bekannte Lehrbücher für das Diminuieren, in denen quasi tabellenartig Beispiele aufgeführt werden, wie man ein Intervall verzieren kann. Diego Ortiz' Tratado de Glosas sobre cláusulas y Otros Géneros de Puntos en La Música de Violones (Rom 1553) enthält einerseits solche Tabellen, andererseits Beispiele für das Improvisieren von Solostimmen über bekannte Akkordfolgen, die er "Cantos llanos" oder auf italienisch "Tenores" nennt. Hier finden sich mehrere Standard - Harmoniefolgen, die ich auf den folgenden Seiten vorstellen möchte.
"La Fontegara" von Sylvestro Ganassi, 1535 im Eigenverlag herausgegeben, bringt neben Anweisungen zum Spiel der Blockflöte vor allem endlose Tabellen mit Diminuitionsbeispielen, systematisch geordnet nach rhythmischen Proportionen - man findet neben Triolen auch Quintolen und Septolen.
Strukturierung von Tänzen
In Fantasien, Ricercaren und Toccaten, den wichtigsten "freien" Formen, setzte ein Komponist der Renaissance Diminuitionen und Laufwerk ein, um in thematisch ungebundenen Passagen Virtuosität zu demonstrieren. Gleichzeitig beeinflusst die Diminuitionstechnik direkt die formale Struktur von Tänzen.
Fast jeder Tanz hat zwei oder drei Teile, die jeweils wiederholt werden, und die Komponisten schreiben häufig statt einer Wiederholung die Teile virtuos diminuiert aus. Wo wirklich nur drei Teile jeweils einmal da stehen, kann man davon ausgehen, dass sie "live" verziert gespielt wurden.
Diese strukturbildende Variationstechnik führt direkt zu einem anderen formalen Phänomen: ein Tanz in gerader Taktart, meist im gemäßigten Tempo, bekommt eine Fassung im schnellen Dreier dazu.
Tanz und Nachtanz
Zu vielen Stücken, die einfach "Tanz", Pavane oder Allemande heißen, gibt es einen "Nachtanz", eine Version im Dreiertakt. Das ist doppelt praktisch: man braucht nichts Neues zu erfinden, und das Publikum bekommt etwas, was es so ähnlich schon kennt - das lieben die Leute, so wird heute noch Popmusik verkauft.
Das Stück im Dreiertakt zum Tanz kann "Hupfauff", "Auff und auff" oder "Nachtanz" heißen, oder
das Paar heißt "Pass'e mezzo" und "Il suo saltarello", oder "Saltarello del predetto ballo",
oder "Pavan" und "Gagliarda".
Immer ist das Grundprinzip, dass das Stück im geraden Takt
entweder auf einen Sechser erweitert oder zu einem Dreier zusammen gestaucht wird. Jedenfalls
wird das harmonische Grundgerüst beibehalten, die Melodie entsprechend variiert und in den
Wiederholungen neu diminuiert - ein etabliertes Grundgerüst für die Kreativität der Komponisten
und Musiker.
An einfachen Stücken der Renaissance, wie "Der Fuggerin Tanz" oder "Ein niderländisch Tänzlein" kann man das Einfügen von Diminuitionen und das improvisatorische Umwandeln in ein Stück im Dreiertakt gut üben.
Aus der Konvention "Tanz und Nachtanz" entsteht schließlich die Form der Suite, die im Barock die Unterhaltungsmusik entscheidend mitprägt.
Der 1. Teil der Pavane "Mille Ducas" von T. Susato mit nachfolgender Galliarde. Im Bild unten eine "Nachtanz" genannte Fassung im 3/4 Takt, die ich mir in Anlehnung an die Pavane ausgedacht habe. Hier wird das Taktgefüge von 4/4 auf 3/4 verkürzt - die andere Möglichkeit, einen Dreier aus dem geraden Takt zu machen. Vergleiche die zwei Dreiertakte zum Pass'e mezzo von Bianchini. Anhören der drei Abschnitte:
Im Falle der bei Ortiz Tenores genannten Stücke, der Passemezzi etc. wird das Thema mehrfach diminuierend variiert, dann kommt häufig "Saltarello del predetto" und manchmal noch ein zweiter Satz im Dreiertakt, wie z.B. bei A. Le Roy, "Galliarde romanesque - autrement - Fredon sur la Romanesque".
Diese Praxis ist in gedruckten Werken weit verbreitet, und deshalb würde ich davon ausgehen, dass solche Stücke improvisiert wurden wie heute Jazz-Standards in Jam-Sessions, und ich würde auch vermuten, dass sie lange vor dem ersten Auftauchen in Drucken gespielt wurden, als einfachste Form, die Hochzeitsgesellschaft zu später Stunde weiterhin mit Tanzmucke zu beliefern.
Harmoniefolgen der Renaissance
Neben Intavolierungen von Vokalwerken, Fantasien und Toccaten und verschiedenen Tänzen sind Variationen über die genannten Harmoniefolgen in den Publikationen für Lauteninstrumente weit verbreitet.
Dabei ist es gar nicht so einfach, die zu Grunde liegenden Modelle richtig zu benennen: sie
heißen in den Lautenbüchern mal so, mal so. Da in der Renaissance Nachrichten weniger schnell
als heute verbreitet wurden, gibt es Schreibfehler und Verwechslungen.
Eine lustige
Verballhornung findet sich bei
Hans Newsidler, Ein Newgeordent künstlich Lautenbuch, 1536, der seiner Version des
Pass'e mezzo, was man mit "Schritt und ein halber" übersetzen könnte, den Titel
Wascha mesa
gibt.
Auch heute noch ist die Verwirrung um die Namen groß: Auf der deutschen
Wikipedia - Seite steht über die
Romanesca, dass berühmte Beispiele hierfür Greensleeves
oder
Guardame las vacas
seien. Weiterhin, dass sie mit dem Passemezzo antico und der
Folia eng verwandt sei.
Der zweite Teil von "Greensleeves" hat praktisch die gleichen Harmonien wie "Guardame las
vacas", ich würde aber bei einem Stück zwecks Zuordnung vor allem nach dem ersten Teil schauen,
der im Fall von "Greensleeves" tatsächlich dem Passemezzo antico ähnelt.
Sowohl "Folia"
als auch "Passemezzo" beginnen zwar mit einem Mollakkord, wechseln dann aber zu
unterschiedlichen Durakkorden. Ich finde, sie sind deutlich verschieden von einander und würde
sie nicht als "Verwandte" bezeichnen. Außerdem ist das, was wir heute unter einer "Folia"
verstehen deutlich später entstanden als der Passemezzo.
In der englischsprachigen Wikipedia steht, die Romanesca sei dem frühen Barock zuzuordnen. Dann werden als Beispiele die Vihuela-Komponisten genannt, die allesamt kurz nach 1500 geboren wurden, also definitiv in der Renaissance. Ihre Grundmelodie ähnele der des "Passemezzo", liege allerdings eine Terz höher.
Eine Terz höher oder tiefer ist bei Melodien eher nicht egal, besonders wenn sie unterschiedlich harmonisiert werden. Offensichtlich entstammen die genannten harmonischen Modelle der Renaissance (und ich würde stark vermuten, dass ihre Ursprünge noch älter sind, denn als improvisierte Tanzmusik sind sie erst später schriftlich fixiert worden), sie unterscheiden sich aber nach Harmonien und typischen Melodiefloskeln. Genau nach diesen kann man sie differenzieren, und sollte sie dann auch nicht einfach "verwandt" nennen. Die "Rhythm changes", das Harmoniemodell nach "I got rhythm" von George Gershwin, sind auch nicht verwandt mit einem Blues, nur weil sie wie dieser jazzige Akkorde verwenden und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftauchten.
Der Eintrag im italienischen Wikipedia-Artikel ist - Stand: Juli 2016 - noch kürzer und vereinfachender als die vorgenannten. Das zeigt, dass freie Online-Lexika ihre Grenzen haben, wobei Artikel über sehr spezialisierte Themen auch in anerkannten Musiklexika von Menschen gemacht sind.
Übertragung und Gitarrenstimmung
Für die Notenbeispiele auf den folgenden Seiten gilt:
Alle Stücke sind so transkribiert, dass sie zur Gitarre passen, wie sie im Original auf einer Laute zu spielen wären. Das heißt: Steht ein Stück original in G, läge sein Grundton also auf dem tiefen 6. Chor einer Renaissancelaute, habe ich es eine kleine Terz tiefer transponiert, damit auf der Gitarre der Grundton das E der leeren 6. Saite ist.
Wenn man die Tonhöhe des Originals haben möchte, muss man einen Kapo auf dem 3. Bund der Gitarre platzieren, oder auf dem 2. Bund, wenn man mit einem Kammerton von A = 415 Hertz rechnet. Viele Lautenisten und Cembalisten spielen ja einen Halbton unter dem modernen Kammerton, weil historische Blasinstrumente zum Teil auf diese Höhe gestimmt sind.
Ich würde die folgenden Arrangements mit auf fis gestimmter g-Saite spielen, bis auf die Übertragungen früher Gitarrenstücke oder Barocklautenstücke. Das ist natürlich Einstellungssache, aber es gibt doch einige Akkorde, die wirklich besser funktionieren, wenn man die Terz zwischen 3. und 4. Saite legt.
Quellen
Meine Quellen für die folgenden Notenbeispiele stammen größtenteils aus meinem Notenregal. Wenn möglich habe ich aber online zugängliche Quellen für Abbildungen gewählt. Beim Suchen bin ich auf einige Webseiten gestoßen, die ihrerseits Zugang zu Noten und Tabulaturen ohne Copyright ermöglichen; hier einige Links:
- Die Petrucci Music Library oder IMSLP-Seite.
- Die Lute Society of America hat eine großartige Linksammlung zu Tabulaturen.
- Historia de la Musica.net ist eine Fundgrube auf spanisch.
- Die Bibliothèque nationale de France hat eine englische Webpräsenz.
Teilweise bin ich auf Quellen gestoßen, indem ich nach Komponist, Titel oder Werknummer auf diesen Seiten gesucht habe, teilweise habe ich über ein Stück diese Seiten gefunden und bemerkt, dass dort unendliche Schätze lagern. Lullys "Folies d'espagne, LWV 48" habe ich bei der Bibliothèque nationale de France lange vergeblich gesucht, bis ich Hilfe bekam und erfuhr, dass das Stück in einer Sammlung eines zeitgenössischen Komponisten doch digitalisiert vorliegt.
Schon erstaunlich finde ich, dass zum Beispiel das Saizenay - Manuskript, eine 386-Seiten-Schwarte, die ich mal für über 300 DM gekauft habe, 2016 schlicht online zu finden ist. Oder das wunderschöne Milleran - Manuskript, das ich früher nur vom Hörensagen kannte. Diego Ortiz' Tratado de glosas kann man heute im Original ansehen. Das Internet hat nicht nur schlechte Seiten.